1604 - Panoptikum des Schreckens
mich darauf aufmerksam.
»Schau dir mal das Gesicht an.«
Ich beugte mich vor und richtete den Blick nach unten. So konnte ich an der Stirn vorbei in das Gesicht schauen, bei dem sich der Wachs in Auflösung befand. Als wäre die Figur aufgeheizt worden, so löste sich das Zeug auf.
Aber es gab keine Flamme, die über ihr Gesicht gehuscht wäre. Was da geschah, ließ sich physikalisch nicht erklären. Da musste man schon anders denken.
Es war meine Nähe und vor allen Dingen die Nähe meines Kreuzes, die dafür sorgte, dass dieses Wachs flüssig wurde und das zum Vorschein kam, was sich wirklich darunter befand.
Ich wechselte meinen Platz und schaute mir die Gestalt von vorn an.
Jetzt blickte ich in kein glattes Gesicht mehr, sondern in die Fratze einer halb verwesten Leiche.
Das war einfach verrückt. Und als ich zur Seite schaute, da sah ich, dass auch das Gesicht der Frau seine Glätte verloren hatte. Auch in ihm löste sich das Wachs auf. Es lief in Zungen an der Gestalt entlang, und da dies an der Stirn begonnen hatte, waren sehr schnell die Augen zu sehen.
Da konnte man von Totenaugen sprechen, denn es gab keinen Blick mehr darin, der noch an einen Rest von Leben erinnert hätte.
Und wie war es bei den Kindern?
Noch nicht so schlimm. Bei ihnen warf das Wachs nur Blasen.
Ich schaute wieder auf den Mann. Aus dessen Gesicht war das Wachs verschwunden, abgesehen von ein paar Resten. Am Hals hatte sich das Zeug gesammelt und sich um ihn verdickt, aber auch unter der Kleidung setzte sich die Auflösung fort. So rann das flüssige Wachs sogar aus den Hosenbeinen.
Ich warf einen letzten Blick auf das Geschehen auf dieser seltsamen Bühne und kehrte zu Sukos Standplatz zurück. Von hier hatte ich einen besseren Überblick und sah, dass das Wachs noch immer floss, sodass bald alle verzerrten Gesichter zu erkennen waren, die man schon als horrorartig bezeichnen konnte, denn unter dem Wachs waren Teile der Leichen zum Vorschein gekommen, deren Verwesung schon weit fortgeschritten war.
Suko fragte mit leiser Stimme: »Wer sind diese Toten?«
»Ich weiß es nicht.«
»Doch nicht die Menschen, die hier umgekommen sind - oder?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich weiß ja nicht, wie sie ausgesehen haben.«
»Vielleicht könnte uns Purdy eine Antwort darauf geben.«
»Oder die Kollegen. Wir wissen ja nicht mal, wann sich dieses Drama hier abgespielt hat.«
»Muss schon eine Weile her sein«, meinte Suko.
»Bist du dir sicher?«
»Ich gehe mal davon aus.«
»Wir sollten jetzt unseren Weg fortsetzen«, schlug ich vor.
Dass wir unter der Wachsschicht Leichen entdeckt hatten, war bestimmt wichtig. Ob es die ehemaligen Bewohner des Hauses waren oder nicht, wollte ich mal dahingestellt sein lassen, aber ich ging davon aus, dass das Rätsel dieses Hauses nicht so leicht zu lösen war. Deshalb war ich gespannt, welche Überraschungen uns noch erwarteten.
Suko hatte sich bereits weiterbewegt, und das in der Pfeilrichtung. Er stand dort, wo der Flur zu Ende war und sich eine Tür befand.
In diesem Haus konnte hinter jeder Tür eine böse Überraschung lauem, und ich fragte mich, was für ein Spiel hier getrieben wurde.
Nach außen hin war es das Panoptikum des Schreckens, nach innen möglicherweise ein Stützpunkt der Hölle, der gut getarnt war.
Welche Ziele wurden hier verfolgt? Und was für eine Rolle war Purdy Prentiss zugedacht worden? Konnte man es als einen Zufall ansehen, dass sie in dieses Haus gekommen war? Oder war alles von einer bestimmten Seite minutiös geplant worden?
Zudem hatte Purdy eine Wachsfigur gesehen, die mir zum Verwechseln ähnlich sah. Deshalb konnte es kein Zufall sein. Dahinter steckte ein Plan, der perfekt aufgegangen war.
»Nichts zu hören, John.«
»Was meinst du?«
Suko deutete gegen die Tür. »Dahinter. Ich habe gelauscht und keinen Laut gehört.«
»Ist die Tür denn offen?«
»Ist sie.«
»Und?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nicht hineingeschaut.«
»Dann los.«
Da Suko näher an der Tür stand, überließ ich ihm das Öffnen.
Er tat es wie ein Dieb, der ein fremdes Haus betritt. Sehr angespannt, auch vorsichtig, und der Spalt war kaum vorhanden, als wir den Lichtstreifen sahen. Kein besonders helles Licht. Ähnlich wie das hier im Flur.
Wieder dachte ich an Purdy Prentiss und daran, welchen Weg sie beschritten hatte. Wahrscheinlich den gleichen, den auch wir gegangen waren, aber gesehen hatten wir noch nichts von ihr. Es musste in
Weitere Kostenlose Bücher