1610 01 - Der letzte Alchimist
unternehmen wollen.« Sie beschattete die Augen mit der Hand, als sie zu mir hinaufblickte. Die Sonne war schon weit genug über den Hügel gestiegen, um sie zu blenden. Ihrer blassen Haut nach zu urteilen, schien sie die Sonne überdies nicht allzu oft zu Gesicht zu bekommen. »Der Londoner Meister will den Bürgerkrieg in England so lange wie möglich hinausschieben, eine Dynastie von autokratischen Stuartkönigen aus seiner ›Schule‹ etablieren und spätere Kriege in Europa nutzen, um Wissenschaft und Handel zu seinem Vorteil weiterzuentwickeln. Wenn der Bauernaufstand dann in vierzig Jahren kommt, kann sein Heinrich Stuart ihn mit Leichtigkeit niederschlagen.«
Sie zerbröselte ein Stück Birkenrinde zwischen den Fingern.
»Danach wäre es in England geradezu … idyllisch, Valentin. Wissenschaft und Handel würden gemeinsam weiterwachsen und ein goldenes Zeitalter heraufbeschwören, wo es niemandem mehr an etwas mangelt. Aber Europa … Nun, Ihr wisst, wie es in Frankreich nach mehreren Generationen von Religionskriegen aussieht; dann würde es in ganz Europa so aussehen. Irgendwann würde England dann Europa erobern und auch andere Territorien, und sie würden ein Seereich errichten, wie John Dee es sich vorgestellt hat, aber alles unter absolutistischen Herrschern. So würde der Stuartkönig in einem halben Jahrtausend lediglich den Befehl geben müssen, den unheiligen Kometen vom Himmel zu fegen. Und damit wäre der Untergang verhindert, der uns droht.«
»Wohl kaum ›uns‹«, bemerkte ich und blinzelte ob des Ausmaßes ihrer Vision. Normalerweise denke ich nicht mehr als ein, vielleicht zwei Jahre im Voraus. Ich bedauerte es fast, sie wieder auf die Erde zurückholen zu müssen. »So sehr wir auch auf ein langes Leben hoffen mögen. Fünfhundert Jahre sind doch ein wenig viel.«
Sie erinnerte mich an einen populären Prediger bei Hofe im Jahre 1602, der viel von seinen Offenbarungen gesprochen und Heinrich IV. Edelleute sehr amüsiert hatte, als er sie für ihre Sünden tadelte, da das Ende der Welt nahe sei. Ob es nun Glück ist oder nicht, dass das Ende noch fern ist, überlasse ich anderen zu beurteilen.
»Das klingt utopisch«, fügte ich hinzu und wurde mir des warmen Winds bewusst, der mir ins Gesicht wehte und mein Haar zerzauste. Es gibt Augenblicke, da verschafft das bukolische Leben einem Zufriedenheit. Ich blickte zu der kleinen Frau hinunter und beschloss, für den Augenblick, mit ihren Philosophien zu spielen. »Utopisch. Aber, Signora … Ihr wollt das verhindern?«
Sie verschränkte die Hände in ihrem Schoß. »Ein englisches Imperium, und Ihr fragt noch?«
Ich lachte leise. Ich fühlte mich nicht bemüßigt, das Land zu verteidigen, dessen Fliegen ich mir gerade aus dem Gesicht wedelte. »Signora, Ihr und ich, wir werden beide schon Jahrhunderte vorher sterben. Warum sollte uns das kümmern?«
»Ah, Ihr lacht.« Eine silberne Locke fiel ihr ins Gesicht, und sie machte sich nicht die Mühe, sie wieder hinters Ohr zu stecken. »Valentin, Ihr werdet bemerken, dass ich nicht um König Heinrich trauere. Ich trauere um den Tod keines Königs.«
Ich hätte etwas Passendes in Bezug auf die Fürsten der italienischen Halbinsel dazu bemerken können, doch ich verzichtete darauf.
»Ja«, sagte sie leise, »Robertos Zukunft wird den Kometen verhindern. Aber der Preis dafür ist, dass alle Länder über Jahrhunderte hinweg unter der Herrschaft absolutistischer Herrscher stehen würden! Und nach dem Kometen werden sie ihre Macht nicht aufgeben! Despoten, Kriegsherren, Diktatoren … Nie werden die einfachen Menschen in Freiheit leben.«
»Könige sind ein notwendiges Übel«, erklärte ich. Ein Insekt summte an uns vorbei und in den Wald. Weit entfernt hörte ich einen einfachen Menschen Holz hacken. An einem sonnendurchfluteten Tag im Mai über die Apokalypse zu diskutieren … Kein Wunder, dass sie darüber verrückt geworden ist.
Da sie eine Frau der Kirche und ein Doktor der Astrologie war, versuchte ich es mit folgender Logik: »Madame, sowohl Ihr als auch Doktor Fludd redet von Gott … Warum überlasst Ihr nicht alles ihm? Oder dem Schicksal, das in den Sternen geschrieben steht?«
»Ihr meint, was würde geschehen, wenn Roberto und ich den Dingen ihren Lauf lassen würden?« Sie drehte das Gesicht in die Sonne. Sie schloss die Augen, und Schatten erschienen in ihren tiefen Falten. Ohne die Augen wieder zu öffnen, sagte sie: »Es würde in ganz Europa Krieg geben, angefangen
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