1610 01 - Der letzte Alchimist
Leichnam eines Ertrunkenen, die Hände voll Seetang, und es wäre das Leichteste auf der Welt gewesen, ihm die Pistole in den Nacken zu drücken und sein Gehirn über den Leichnam zu verteilen.
Dariole blickte auf die Pistole, und sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass er sie nicht als Gefahr betrachtete.
Das Gesicht voller Enthusiasmus und Sorge verlangte Dariole zu wissen: »Wisst Ihr, was wir jetzt tun müssen, Messire? Ihm helfen!«
»Das ist ein ertrunkener Seemann.« Es gelang mir, meine Gedanken langsam zu ordnen. »Bedauerlicherweise ist das nichts Ungewöhnliches, und es geht mich nichts an, während …«
»Das ist er nicht!«
»Was ist er nicht?«
»Das ist kein Mann.« Mit einem Stöhnen drehte Dariole die Leiche mit dem Gesicht nach oben.
Das gelbe Licht der Morgensonne war plötzlich irgendwie zu grell und die Brandung zu laut. Ich war einfach zu sehr auf den Kampf konzentriert gewesen und hatte vergangene Nacht eindeutig zu wenig geschlafen.
Das Gesicht war unmenschlich.
Ich betrachtete die blasse gelbe Haut und das zerzauste viel zu schwarze Haar. Und diese Augen … Auch geschlossen besaßen sie schlicht die falsche Form. Sie waren klein wie Nüsse und die Haut an den Rändern gefaltet.
»Seht Ihr?«, sagte Dariole. »Das ist ein Dämon!«
Ich glaube genauso wenig an Hexerei wie jeder andere auch – weniger vermutlich noch, da ich an einem Hof mit Katharina di Medici und ihren Söhnen aufgewachsen bin sowie mit diesem verrückten Mann Nostradamus. Ich habe schon früh gelernt, dass die Menschen das Böse selbst erschaffen. Satans Diener braucht man dafür nicht.
Das Stück Tau, das Monsieur Darioles Aufmerksamkeit erregte hatte, war um die Hüfte von Etwas gewickelt, was ich zunächst für einen kräftigen, kahler werdenden Mann Mitte Fünfzig gehalten hatte. Ein ertrunkener Seemann eben. Offensichtlich waren die Gerüchte über das aufgelaufene Schiff gestern korrekt gewesen. Ich war überrascht, dass die Bauern das Treibgut und damit auch die Leiche nicht schon längst geplündert hatten.
»Er atmet noch!« Ohne die Pistole zu beachten, packte Dariole mich am Handgelenk.
Ich bin es nicht gewohnt, derart angefasst zu werden, und instinktiv hätte ich ihm eigentlich die Faust ins Gesicht schlagen oder die Pistole über den Schädel ziehen müssen.
Das tat ich jedoch nicht. Dariole zog mich mit bemerkenswerter Kraft hinunter und zwang mich, mich neben ihn zu hocken. Das erinnerte mich auf schockierende Art und Weise an seinen Griff im Stall von Ivry. Bevor mir überhaupt bewusst wurde, was geschah, hatte ich mich schon zwingen lassen.
Dariole schob meine Hand zwischen Kopf und Schulter des Körpers. »Wie sollen wir ihn retten?«
Auf meinem Knie und den belebenden Wind des Kanals im Gesicht starrte ich den Körper an. »Das ist kein Dämon – es sei denn, Dämonen riechen wie Menschen.« Ich flüchtete mich in spöttischen Humor. »Oder riecht Ihr etwa Schwefel?«
»Wisst Ihr, wie wir ihm helfen können?«
Meine Pistolen sind beide geladen, eine für jeden von ihnen.
Unentschlossen blickte ich auf den kaum noch lebenden Mann hinab, den das Schicksal mir vor die Füße gelegt hatte. Noch einen Zeugen zu riskieren, der sah, wie ich Frankreich verließ – und wie ich Monsieur Dariole tötete –, das wäre nun wirklich über die Maßen dumm gewesen.
Ich schaute kurz zu dem Jungen, der ebenfalls auf einem Knie hockte. Sein zerstreuter Enthusiasmus war offensichtlich.
Und wie glaubt er, meine Hilfe verlangen zu können …?
Wenn ich meine Gedanken von der Verwirrung fort zwang, für die Dariole in meinem Geist sorgte, rief das nur andere Erinnerungen in mir wach. Vor meinem inneren Auge sah ich wieder Ravaillac, Bazanez und de Vernyes und auch Heinrich, den König.
»Dreht ihn um«, wies ich den Jungen an.
Monsieur Dariole starrte mich an, als wäre ich verrückt. Dann packte er jedoch die Kleidung des Mannes. Sie schien aus einfachem Leinen zu bestehen und glich im Schnitt einem Nachtgewand, nur dass sie sich vorn öffnen ließ wie ein Wams. Dariole drehte den reglosen Leib wieder auf den Bauch und mit dem Gesicht nach unten.
Ich stellte mich über den Mann, packte ihn unter den Armen und riss ihn hoch, bis seine Brust sich gut ein, zwei Fuß über dem Sand befand. Dann zog ich seine Arme mit einem Ruck nach hinten, sodass Rippen und Bauch sich zusammenzogen.
Ich mag kein Wasser. Wie die meisten Menschen fürchte ich mich vor dem Ertrinken. Deshalb hatte ich auch nicht
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