1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist
schon mehrmals Grund gehabt, dankbar dafür zu sein, auch wenn Sully geknurrt hatte. Und jetzt ist der König vielleicht tot, gestorben durch die Hand seiner Frau, und dieser Narr will mir nicht aus dem Weg gehen!
Ich folgte der Gewohnheit und bediente mich jenes Blickes, der sich nicht auf einen bestimmten Mann oder eine bestimmte Waffe konzentriert, sondern auf die Einzelheiten: Spitze, Schneide, Knauf, auf das reiterlose Pferd, einen Verwundeten, die Steinkreuze und die Marmorgiebel und die schmalen Pfade, die den einzigen Weg fort von hier darstellten – all das ohne jede Emotion.
De Vernyes stellte sich sofort meiner Klinge und zielte auf mein Gesicht. Als Reitersoldat trug er einen Kürass sowie ein enggeschnittenes Wams aus schwerem schwarzem Samt. Dadurch und durch seine dicke venezianische Hose bot sich mir kaum Zielfläche, die nicht durch Kleidung verdeckt war, doch das ist ohnehin nur selten der Fall; bei seinem Freund Bazanez hatte sich mir schlicht zufällig eine Lücke geboten.
»Es tut mir Leid, Messire«, sagte ich, begegnete seinem Hieb und drehte die Klinge, um ihn zu entwaffnen. Gleichzeitig schlug ich ihm den Knauf meines Dolches mit lautem Krachen gegen die Stirn.
De Vernyes stolperte gegen ein großes Grabmal zurück. Das Klirren von Stahl verkündete, dass sein Rapier sechs Schritt entfernt auf den Boden fiel. Ich hielt die Spitzen beider Waffen auf ihn gerichtet. Er sank auf die Knie und fiel dann zur Seite in ein Blumenbeet unter einem Bildnis der Heiligen Jungfrau, die Augen zum blauen Himmel hin geöffnet.
Das zweite, offenbar gut ausgebildete Pferd stand ungerührt und mit gesenktem Kopf da. Der Reiter war auf den Sattelknauf gesackt, und seine Arme baumelten an den Seiten herunter. Die Zügel waren ihm aus der Hand und auf den Boden gefallen. Ich kehrte ihm nicht den Rücken zu.
Ich hätte die beiden kaltblütig töten können; so etwas hatte ich auch früher schon oft getan.
Aber ich muss nicht, erkannte ich.
Der Schaden war bereits angerichtet.
Der Duc de Sully war auch ohne das Zeugnis der beiden hier bereits in das Attentat verstrickt. Sollte d'Epernon selbst sich nicht daran erinnern, dass sich Ravaillac an mich gewandt hatte, würde dieser sicherlich ›Monsieur Belliard‹ unter der Folter belasten. De Vernyes und sein Kamerad waren eine zusätzliche Unannehmlichkeit.
Wie hat solch ein Tor nur Erfolg haben können?
Grimmig hob ich meinen Hut auf und versuchte, ein, zwei Augenblicke lang die Krempe wieder zu richten.
Wie viel Zeit war seit dem Attentat vergangen? Eine Viertelstunde? Mehr? Die Kutsche würde zum Palast zurückfahren müssen. Inzwischen würde die Königin genug wissen, um sich abschirmen zu lassen. Ich würde noch nicht einmal in ihre Nähe kommen, ohne vorher verhaftet zu werden.
Ich setzte den Hut wieder auf den Kopf und stand einen Augenblick lang mit dem Schwert in der Hand einfach nur da.
Heinrich stirbt vielleicht gar nicht … aber wetten würde ich darauf nicht.
Schwer atmend von der Anstrengung des Kampfes zog ich mich von den Pferden und den gefallenen Männern zurück und lief geduckt über die schmalen Pfade, die zur Ostseite des Cimetière führten. Ich nahm mir nicht de Vernyes Pferd, wohlwissend, dass andere Gardisten es erkennen würden. Schließlich drängte ich mich auf die überfüllteste Straße und ließ mich vom Strom der Gardisten, Bewaffneten und einfachen Bürger zum Palast tragen. Dort war zwar so gut wie jeder in der Lage, den ›Spanier‹ zu erkennen, aber …
Ich musste eswissen. Heinrich lebte vielleicht noch.
Die Kirchenuhren schlugen zur vollen Stunde, während Männer mit gezückten Schwertern durch die schreiende Menge galoppierten. Eine Stunde war seit dem Angriff vergangen, doch ich hatte das Gefühl, als wäre das alles erst vor wenigen Sekunden geschehen. Alle möglichen Gerüchte wanderten von einem zum anderen, während ich mir mit den Ellbogen einen Weg durch die Menge bahnte. Heinrich lebt, Heinrich ist tot, d'Epernon hat über seinem Leichnam geweint, die Königin hat Heinrich aus Paris geschafft, nein, die Spanier waren das, nein, die Hugenotten. Die Königin ist gesehen worden, wie sie weinend durch den Palast gelaufen ist und geschrien hat: Le roi est mort !
Ich drang im selben Augenblick ans Geländer des Louvre vor, als ein Gardist eine Proklamation an die Wand nagelte.
Er war tot. Heinrich von Navarra, Heinrich IV. war tot. Ich vermutete, dass er irgendwann in der kurzen Zeitspanne gestorben
Weitere Kostenlose Bücher