1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist
das hätte schaffen können. Er hat mehr Glück, als ihm zusteht, viel mehr. Er nutzt jede Chance, die ein Fechter nur in den allerseltensten Fällen überhaupt sieht, nutzt jede Fluchtmöglichkeit, pariert jeden Hieb …
Ich versuchte es anders und schlug einfach einmal ohne Sinn und Verstand zu. Das Rapier mit beiden Händen gepackt drosch ich wie ein Bauer auf ihn ein.
Die ein Zoll breite Klinge des sächsischen Rapiers berührte Fludd noch nicht einmal. Er wuchtete das englische Breitschwert hoch, doch nicht um die Hiebe direkt abzublocken – dazu fehlte ihm offenbar die Kraft –, sondern um sie harmlos zur Seite abzulenken.
Die Sonne schien heiß auf das Gras, und Wimpel flatterten auf den Dächern von Southwark. Ich hatte Zeit zu denken: So muss es sein, wenn man ein gewöhnlicher Fechter ist …
Doch unfähige Männer duellierten sich nicht auf diese Art. Niemand geht so mit einer Waffe um! Was auch immer mein Verstand von dieser Sache halten mochte, jede Faser meines Körpers, all mein Instinkt wusste, dass diese Bewegungen falsch waren. In einem Duell ist Timing alles, und sein Timing …
Das hat nichts mit seiner Langsamkeit zu tun. Die Erkenntnis zwang sich mir förmlich auf. Sein Timing stimmt, weil er sich zuerst bewegt.
Er bewegte sich immer den Bruchteil einer Sekunde, bevor ich es tat.
Fludds Spitze drang leicht in meinen Oberarm. Er stieß an mir vorbei, als wisse er bis auf Haaresbreite genau, wo mein Schwert sich befand.
Dass er mich berührte, mich, Rochefort …!
Wut und Panik kochten in meinen Adern. Dass ich tatsächlich in Panik geriet, will ich freimütig gestehen. Er hatte sich entschieden – Er hatte sich entschieden, nicht zu töten.
Ich wurde wild und schlug seine Klinge weg, als er sie zurückzog.
Ich bewegte mich jedoch zu schnell nach vorn und bekam ein wenig Übergewicht. Meine Füße fühlten sich an, als stünde ich in Treibsand. Es war schon mehr als ein Dutzend Jahre her, seit ich zum letzten Mal in einem Duell so aus dem Gleichgewicht geraten bin.
Fludd sprang rasch vor und griff nach meinem Heft. Einen Augenblick lang spürte ich seine behandschuhte Hand auf meiner, die wiederum auf dem mit Draht umwickelten Heft lag. Er hatte mich buchstäblich auf dem falschen Fuß erwischt, und ich riss meine Klinge mit aller Kraft zurück und schnitt ihm dabei in die Hand.
Er fluchte, bewegte die Finger und packte mein Schwert mit der anderen Hand.
Ich spürte, wie mir das Heft aus den Fingern glitt, drehte es genau in die falsche Richtung, um es festzuhalten oder auch nur meine Finger in die Parierringe zu schieben … und er trat mit beiden Schwertern in der Hand zurück.
Ich keuchte, und das Blut pochte in meinen Adern. Ich starrte ihn an, und meine leeren Hände zitterten.
»Verzeiht mir, wenn ich nicht weitermache«, sagte Fludd, der ebenfalls keuchte. Reumütig blickte er auf seine Hand. »Ich habe das Wissen, aber nicht die Kraft. Gleiches gilt für den Tod von König James. Ich weiß alles, kann aber nichts tun.«
Ich schwieg und starrte ihn nur weiter an.
»Ich habe nie gelernt zu kämpfen.« Robert Fludds Atem rasselte. »Aber ich habe meine Berechnungen gemacht; viele Male im Laufe der Jahre habe ich diesen Kampf studiert.«
Langsam kam mir die Bedeutung seiner Worte zu Bewusstsein, während ich schwer atmend auf mein Schwert in seiner Hand starrte. Wenn ein Mann berechnen konnte, welche Paraden, Stöße, Hiebe ein anderer in einem Gefecht wann machte … dann konnte er sich eine beliebige Gegentaktik zurechtlegen und sie einfach auswendig lernen. Auf diese Art konnte ein Mann ohne Können, ein Mann, der ein Schwert wie einen Spazierstock hielt, selbst den größten Fechtmeister besiegen.
»Das ist lächerlich!« Meine Stimme ließ mich im Stich. Ich nickte zu dem Fleck auf seiner Hand, wo meine Klinge ihn geschnitten hatte.
»Fragt jeden Schauspieler … Man kann einen Text hundert Mal auswendig lernen und doch …« Fludd blickte zum ersten Mal traurig drein. »Wie auch immer, manchmal muss man für den Erfolg noch zusätzlich etwas Blut vergießen.«
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich ihn noch anstarrte: diesen Mann, der verletzt war und mich besiegt hatte. Fludd hielt mir mein Schwert hin.
Ich nahm es. Doch so sehr ich mir auch gewünscht hätte, sein Blut durch die Luft spritzen zu sehen, wenn ich die Klinge abschlug, ich tat es nicht.
»Wir haben nur eine Chance.« Fludds Atem ging noch immer rasselnd. Sein Gesicht war weiß und die
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