1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist
um ihm seine Wunden zu verbinden und seine Kleider zu flicken – und um mit ihm über die Weisheit bestimmter Entscheidungen zu debattieren.
Aber Gabriel war entweder von Maria di Medici gefangen genommen worden und saß mit dem Duc de Sully im Verlies, oder aber er war vernünftigerweise aufs Land geflohen. Ich hoffte auf Letzteres. Und es gab keine vertrauenswürdigen Agenten hier in London, die ich hätte aufsuchen können.
Ich hob den Kopf und ließ mir den Frühlingswind ins Gesicht wehen. Brüllen ertönte aus einem nicht weit entfernten Bullenpferch. Die Räder eines Ochsenkarren kreischten. Dem Geräusch nach befand er sich westlich von mir. Wir hatten den Fluss über die Hauptstraße und die London Bridge überquert, vermutete ich; Robert Fludds Haus musste den Schauspielhäusern gegenüberliegen.
Ein Blick zum Fluss bestätigte mir das. Ich sah den Tower. Östlich von hier lagen Depford und Greenwich, von wo Schiffe nach Europa, in die Neue Welt und den Fernen Osten aufbrachen. Ich ärgerte mich über den Verlust der Satteltaschen, die unter anderem ein zweites Wehrgehänge enthielten.
Ich hatte im Laufe meiner Karriere jedoch genug Männer meiner Profession gefangen, weil sich diese nicht von irgendetwas hatten trennen können, was ihnen am Herzen lag. Ich wiederum war stolz darauf, alles und jeden hinter mir lassen zu können, ohne Reue zu empfinden.
Mühlen knarrten am Flussufer. Hier führten kleine Brücken über Bäche, die als offene Kanäle dienten und dementsprechend stanken. Ich überquerte sie und bog dann wieder in Richtung Southwark ab, direkt zur Bankside hinunter. An einem Badehaus, das auch als Puff diente, blieb ich stehen, ein typisches Etablissement für weiter außerhalb gelegene Stadtbezirke, in denen das Gesetz weniger große Macht besitzt.
Ihr werdet sie auf dem Friedhof finden, hörte ich in meinem Kopf Robert Fludd erneut sagen, als ich die knarrende Treppe zu den oberen Räumen hinaufstieg. Ich fluchte leise vor mich hin, woraufhin die schmutzige, alte Frau auf dem Treppenabsatz mich mit zusammengekniffenen Augen musterte. Rasch vertrieb ich diesen Unsinn aus meinen Gedanken.
Ich sollte mir eher darüber den Kopf zerbrechen, wie erschreckend gut informiert dieser ›Robert Fludd‹ in Bezug auf die jüngste Vergangenheit gewesen ist, ganz zu schweigen von der Zukunft!
Wer kann ihm von mir erzählt haben?
Und wer sonst weiß, was er weiß?
Meine Wunde hatte ich mir mit Wein ausgewaschen und verbunden. Sie war nicht schlimm, aber der von ihr ausgehende Schmerz ließ mich ständig an ihn denken, was wohl auch seine Absicht gewesen war. Gabriel Santon hätte die Verletzung besser versorgt, glaube ich.
Das Zimmer unter dem Giebel in einer Reihe von Southwark-Häusern war nicht viel anders als mein Quartier in Paris. Hätte man auf der Straße nicht Englisch gesprochen, hätte ich durchaus glauben können, wieder in Paris zu sein und draußen auf Maria di Medicis Reiter zu stoßen, kaum dass ich einen Fuß vor die Tür setzen würde …
Ob sie wohl noch immer die Regentschaft innehat'? Ich war von allen zuverlässigen Informationsquellen abgeschnitten. Hier gab es nichts als Gerüchte!
Gabriel Santon hätte nicht nur meine Wunde besser verbunden und Tavernengerüchte für mich zusammengetragen; er hätte mir auch Rückgrat gegeben. Auch wenn ich über solche Dinge nicht hätte reden können, war es mir stets leichter gefallen, meine Gedanken zu ordnen, wenn er in der Nähe war.
Ich leerte den tiefen Zinnteller, der groß genug war, dass er in einer Tavernenschlägerei als Buckler hätte dienen können. Und während ich aß, verschwand die Übelkeit fast völlig, die Fludds Tritt mir beschert hatte. Die Königin ist meine Angelegenheit, nicht Doktor Fludd.
Ich trank das säuerliche englische Bier und konnte nicht anders, als mit dem Krug in der Hand auf und ab zu laufen. Sully, dachte ich. Sully. Und Maria di Medici, die Witwe des großen Heinrich … Was kann ein Monsieur Rochefort schon gegen sie tun?
Nun, wir würden sehen. Ich könnte sie erpressen, dachte ich kalt. Schließlich wusste ich ja, wer mich darauf angesetzt hatte, Heinrich zu ermorden. Doch dafür würde ich sie kontaktieren müssen, und sie wiederum würde mich dann finden und töten können. Daheim war ich ein Mann mit mächtigen Freunden. Hier folgten die englischen Lords ihren eigenen Interessen. Sie würden sicherlich nicht leicht davon zu überzeugen sein, mich zu unterstützen; aber natürlich
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