1612 - Der letzte Flug der LIATRIS SPICATA
ganze Kiste von Tricks parat, von technischen Kunstgriffen und Improvisationen, aber es wollte ihm beim besten Willen kein listiger Dreh einfallen, mit dem man diese Situation hätte entschärfen können.
Aber endlich entkam sein Schiff dem Normalraum und wechselte in den Linearflug über.
Und dann wurde es dunkel.
Von einem Augenblick auf den anderen wurde es im Inneren der LIATRIS SPICATA finster, so schwarz wie in einem lichtlosen Schacht tief unterhalb der Erde. In der gleichen Sekunde setzte der Antrieb aus, und die künstliche Schwerkraft verschwand.
Der Kopf des Kommandanten ruckte zur Seite; Valdez warf einen Blick auf sein Armbandchronometer. Die grünlich schimmernde Anzeige war das einzige, was er jetzt mit seinen Augen erfassen und festhalten konnte.
Dieses Chronometer neuester Fertigung war das einzige Stück Luxus, das er sich jemals erlaubt hatte, ein edles technisches Kunstwerk, syntrongesteuert und mit einer Vielzahl anderer nützlicher Funktionen.
Jetzt zeigte das Gerät nur noch die Zeit an, und die schien sich nicht mehr ändern zu wollen.
Die Ziffern auf der Anzeige blieben einfach gleich.
Sie zeigten den 10. Januar des Jahres 1200 NGZ, präzise 17:23:43 Ortszeit an Bord der LIATRIS SPICATA - auf ihrem letzten Flug.
2.
„Ich bin soweit!" verkündete der Kommandant. Er ließ die Verschlüsse des Raumanzuges einrasten.
Von jetzt an hing sein Leben am perfekten Funktionieren dieses Anzuges, der von ihm und seiner Crew so zurechtgebastelt worden war, daß er auch ohne Syntronsteuerung seine Aufgabe halbwegs normal erfüllen konnte.
Natürlich hatte diese Bastelei auch ihre Tücken. So wurde der Druckausgleich zwischen der Atmung des Kommandanten und dem Inhalt der Druckflaschen über ein selbstgebautes Ventil geregelt. Sollte dieses Ventil jemals defekt werden, würde sich der Sauerstoff explosionsartig in die Lungen des Kommandanten entladen und ihn wahrscheinlich nach ein paar Sekunden wie einen überdehnten Luftballon zerplatzen lassen.
So betrachtet, hatte das zischende Geräusch, mit dem die Luft in das Innere des Anzugs strömte, fast etwas Drohendes an sich. Escobar Valdez jedenfalls fand den Klang sehr beunruhigend.
Aber er hatte keine andere Wahl. „In Ordnung, macht weiter!"
Der nächste Arbeitsgang bestand darin, das innere Schott der großen Schleuse zu schließen, und das ohne die Hilfe der starken Servomotoren, nur auf hydraulischem Wege. Mit ähnlich primitiven Mitteln wurde anschließend die kostbare Atemluft aus der Schleuse gesaugt.
Den Fortgang dieser Arbeiten konnte Escobar Valdez auf einem kleinen Druckmesser verfolgen, den man aus irgendeinem anderen technischen Gerät umständlich ausgebaut und für diesen Zweck abgewandelt hatte.
Im stillen konnte sich Escobar Valdez zu dieser Crew nur gratulieren; wo sonst hätten sich Improvisationskünstler und technische Tausendsassas in solcher Menge finden lassen, wenn nicht an Bord der LIATRIS SPICATA?
Und dieser Gaben hatte es in der Tat bedurft. Wenn Escobar Valdez an die letzten Wochen und Monate dachte, in denen jeder Tag, ja beinahe jede Stunde zum erbitterten Kampf der Menschen an Bord gegen den Tod geworden war, dann schauderte es ihn. Hunger, Durst, Atemnot, die Risiken eines Schiffes, in dem es keine künstliche Schwerkraft mehr gab, der Mangel an verfügbarer Energie - das Schicksal hatte in diesen Tagen und Wochen die Fähigkeiten der Crew wirklich bis an die Grenzen ausgereizt.
Dabei war das schlimmste der Umstand gewesen, daß all diese Schufterei auf gewisse Weise keinen Sinn ergab.
Denn niemand an Bord hatte auch nur die leiseste Ahnung, was mit der LIATRIS SPICATA überhaupt passiert sein mochte. Im Inneren der stählernen Hülle der LIATRIS SPICATA kursierten die wildesten Gerüchte und Spekulationen, die sich zum Teil grotesk widersprachen und zum Teil gar keinen Sinn machten. Eher als blöder Scherz war die These aufzufassen, die Kosmokraten wären in einen unbefristeten Streik getreten, um irgendwelche Ziele durchzusetzen - wobei man sich fragen konnte, gegen wen. Absurd war auch die These vom Schlaganfall der Superintelligenz ES, obwohl man in der Galaxis, was. Eigentümlichkeiten der Superintelligenz anging, inzwischen an die merkwürdigsten Erscheinungen und Phänomene gewöhnt war. Man brauchte sich nur an die Schwierigkeiten zu erinnern, in denen ES vor 26 Jahren gesteckt hatte.
Am verbreitetsten war die Theorie, die LIATRIS SPICATA sei, ohne es zu merken, in eine Art Raumzeitfalte
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