1620 - Vorleser des Teufels
herausgekommen?«
Der Blick ihrer Augen veränderte sich. »Er hat mich stark gemacht. Er hat eine andere Macht als seinen Helfer bekommen, und das ist wunderbar gewesen.«
Ich musste mir die Worte erst durch den Kopf gehen lassen. »Stark gemacht«, das waren nur Worte. Aber was bedeutete das in der Realität? Wie sollte ich es interpretieren? Körperlich stark oder seelisch?
Audrey Wilder hatte mich genau beobachtet. Obwohl ich mich nach außen gelassen gezeigt hatte, schien sie zu wissen, mit welchen Gedanken ich mich beschäftigte.
»Du zweifelst, John?«
»Ich denke nur nach.«
»Ja, das ist dir anzusehen. Du bist hin und her gerissen. Du weißt nicht, was mit Rita passiert oder passiert ist. Ich kann dir nur sagen, was mit mir geschehen ist. Ich bin stark geworden. Jeder wird es auf seine Art. Man spürt in seiner Nähe das Leben, aber auch den Tod. Es bleibt ihm überlassen, für wen er sich entscheidet. Aber wen er einmal besitzt, den lässt er nicht mehr los.«
»Und das ist auch bei dir so gewesen?«
»Sicher.«
»Gut, Audrey. Darf ich dann fragen, wie oder auf welche Weise er dich stark gemacht hat?«
Sie legte den Kopf schräg und schaute mich an. Wie jemand, der noch nachdenken musste, ob ich auch würdig war, die ganze Wahrheit zu erfahren. Sie entschied sich dafür und ließ ihre Hand in der rechten Seitentasche ihres Kittels verschwinden. Lange blieb sie nicht dort. Als sie wieder zum Vorschein kam, umklammerten die Finger den Griff eines Messers.
Ich zuckte leicht zusammen, stand wie auf dem Sprung, als ich auf die Klinge des Taschenmessers schaute, Audrey auch lachen hörte, bevor sie etwas sagte.
»Du musst dich nicht fürchten. Ich will nichts von dir. Noch nicht, John. Ich will dir nur etwas zeigen.«
Okay, ich hielt mich zurück, weil ich den Eindruck hatte, vor etwas Wichtigem zu stehen. Es mochte eine Spur sein, die mich dem eigentlichen und noch unbekannten Ziel näher brachte.
Obwohl sie das Messer festhielt, schaffte sie es, den linken Ärmel aufzurollen, und drehte ihn so zusammen, dass er über dem Ellbogen blieb und nicht wieder hinabrutschte.
»Jetzt gib acht, John!«
»Ja.«
Es war eine Demonstration. Und sie bewegte sich dabei sehr langsam, damit ich auch alles mitbekam. Lange zu raten brauchte ich nicht, denn ich sah genau, was sie vorhatte.
Audrey setzte die Spitze des Messers unterhalb ihres Ellbogens an den Unterarm.
Ein Lächeln, dann ein Lachen, und sie schnitt zu!
Ich hätte jetzt eigentlich eingreifen müssen, doch das verkniff ich mir.
Auch wenn es mit schwerfiel, blieb ich stehen und wartete die Demonstration ab.
Audrey hatte die Augen verdreht. Sie schielte mich an, aber auch das Messer. Es war schon eine Kunst, so zu blicken, und nicht sie, sondern ich zuckte zusammen, als sie den Schnitt durchführte, der nicht tief war, sich aber schnell mit Blut füllte.
Es war ungewöhnlich. Audrey riss sich zusammen. Nicht ein Laut des Schmerzes drang aus ihrem Mund. Sie hörte auf, als der Schnitt etwa die Länge eines halben Zeigefingers erreicht hatte.
Danach zog sie das Messer weg, lächelte, nickte mir zu und setzte die Spitze an, um einen zweiten Schnitt anzusetzen. Auch dabei lächelte sie, und der zweite Schnitt kreuzte den ersten so, dass ein blutiges X auf der Haut entstand.
Sie nahm das Messer wieder weg, schaute auf die Klinge und leckte das Blut ab. Danach drehte sie den Arm so, dass sie mir die Innenseite präsentieren konnte.
»Hier, schau hin, John.«
Das hätte sie mir nicht zu sagen brauchen, das tat ich schon die ganze Zeit über. Ich sah eine Wunde, die ein X bildete. Es waren auch die Blutstropfen zu sehen, die an den Seiten der Schnitte hervorquollen. Das war völlig normal.
Und doch gab es etwas Unnormales.
Es war Audrey Wilder. Sie schrie nicht. Sie atmete nicht mal heftiger.
Sie lächelte sogar, und sie schien diese Verletzung regelrecht zu genießen.
»Siehst du es, John?«
»Ich bin nicht blind!«
»Sehr schön, stell deine Fragen!«
Sie wusste, dass jeder Mensch nach dieser Verletzung seine Fragen gehabt hätte, und da machte ich keine Ausnahme.
»Du verspürst keine Schmerzen?«
Audrey riss den Mund auf und lachte. »Ja, so ist es. Das wollte ich dir beweisen. Ich kann mir Wunden zufügen und verspüre keinen Schmerz dabei. Das ist es, was ich wollte. Das habe ich erreicht. Und zwar durch ihn, nur durch ihn…«
Ich sagte zunächst mal nichts und schaute zu, wie sie den Arm anhob, ihn anwinkelte und ihren Mund gegen die
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