1620 - Vorleser des Teufels
Wunde drückte, um das Blut abzulecken. Das sollte sie meinetwegen. Ich brauchte Zeit, um meine Gedanken zu ordnen.
Was ich gesehen hatte, war schon ungewöhnlich. Als unbedingtes Phänomen wollte ich es nicht einordnen. Der Vorgang musste nichts mit einer Magie zu tun haben. Es war gut möglich, dass sie unter Drogen stand, die dafür sorgten, dass sie schmerzunempfindlich war. So etwas gab es, und es gab auch die antrainierte Selbstbeherrschung. Da fielen mir die Fakire ein, die sich auf ein Nagelbrett setzten.
»Keine Schmerzen?«, vergewisserte ich mich nochmals. »So ist es.«
»Und weiter?«
Sie lachte kichernd. »Ich bin den Weg gegangen, ich habe mein Ziel erreicht.«
»Und wer hat dir dabei geholfen? Du bist doch bestimmt nicht von allein auf die Idee gekommen. Du hast dir sicher ein Buch über Selbstsuggestion gekauft und dich danach gerichtet.«
»Damit liegst du richtig.«
»Dann sind wir schon einen Schritt weiter. Und wie ist es mit Rita gewesen? Ist auch sie deinen Weg gegangen?«
»Schon. Aber nicht den gleichen. Wir können uns entscheiden. Er lässt uns die Freiheiten.«
»Und - wer ist er?«
»Nein, nicht so. Du solltest ihn kennen, John, wenn du ein Freund von Rita bist.«
»Sollte ich. Aber sie hat mir nicht alles gesagt.«
»Dann bist du ihr nicht nahe genug gewesen, und das werde ich mir merken.« Sie schaute auf ihre Wunde. Das Blut trocknete allmählich.
Das Messer hielt sie noch fest, aber sie sah jetzt nachdenklich aus.
»Wer gab dir die Kraft?«
Ich ließ nicht locker und sah, dass sie den Kopf schüttelte.
»Nein, John, nein, das werde ich dir nicht sagen. Es gibt Geheimnisse, die auch welche bleiben müssen. Ich will dir ja nichts Böses, aber ich würde vorschlagen, dass du die Wohnung verlässt. Du brauchst nicht auf Rita zu warten. Das übernehme ich. Wenn sie kommt, werde ich ihr sagen, dass du hier gewesen bist.«
So sang- und klanglos wollte ich nicht verschwinden. Hier gab es noch immer ein Rätsel, das gelöst werden musste, und es würde mich auch interessieren, wie sie reagierte, wenn sie die Wahrheit erfuhr.
»Rita wird nicht mehr kommen, Audrey.«
Sie schnaufte. Dann räusperte sie sich.
»Wie meinst du das?«
»So wie ich es gesagt habe. Rita kommt nicht. Sie wird nie mehr kommen, verstehst du?«
Sie verstand noch immer nicht und musste zunächst nachdenken. Dann öffnete sie den Mund und flüsterte: »Ist sieist sie…?«
Ich nickte. »Ja, sie ist tot.«
Jetzt war es heraus, und ich war gespannt auf ihre Reaktion.
Sprechen konnte sie nicht. Meine Eröffnung hatte sie zu stark geschockt.
Ich sah, dass sich ihr Blick veränderte. Sie wusste nicht, wohin sie schauen sollte, entschied sich dann für den Fußboden, hob die Schultern an und krächzte: »Du lügst!«
»Nein, weshalb sollte ich?«
Sie hob den Kopf wieder an. »Das weiß ich nicht. Aber du lügst. Rita kann nicht tot sein. Sie ist einfach zu stark, denn sie war bei ihm, ebenso wie ich.«
Ich hob die Schultern. »Und trotzdem ist sie nicht mehr am Leben. Sie wurde umgebracht. Da konnte er ihr auch nicht mehr helfen. So ist das nun mal.«
Audrey Wilder überlegte. Sie verkrampfte ihre Hände. Ihr Atem ging heftig, dann starrte sie auf ihre x-förmige Wunde und schüttelte den Kopf. »Nein«, flüsterte sie, »ich glaube dir nicht. Ich glaube dir kein Wort. Ich nehme dir ab, dass sie nicht mehr lebt, aber ich sehe auch den Mörder vor mir. Ja«, schrie sie plötzlich, »du bist ihr Killer! Du hast sie getötet!«
»Bestimmt nicht!« Sie trampelte mit dem rechten Fuß. »Hör auf zu lügen, verdammt. Sie kann nicht so leicht sterben. Sie steht unter seinem Schutz. Hast du das begriffen?«
»Ja, das habe ich. Ich habe alles verstanden, aber sie ist trotzdem tot, und ich denke, dass dein geheimnisvoller Freund ihr Mörder ist. Zumindest indirekt.«
»Niemals!«, peitschte mir ihre Antwort entgegen. »Niemals! Er gibt uns Stärke. Er ist der Vorleser. Er hat uns in seinen Bann geschlagen. Wir sind nicht ohne Grund zu ihm gegangen, das solltest du dir merken.«
»Sag mir den Grund«, forderte ich sie auf.
Audrey redete nicht sofort. Sie musste sich erst fassen. Als sie es geschafft hatte, hob sie den Kopf an und schrie mir ihre Antwort ins Gesicht.
»Er kann nicht sterben! Er hat einen Pakt mit dem Tod geschlossen. Er hat ihn überwunden. Sein Zauber ist so mächtig, und er will einen Teil davon an seine Freunde weitergeben.«
»Ja, das habe ich erlebt, als ich vor der Leiche deiner
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