1647 - Engelstadt - Höllenstadt
Macht beweisen. So wie jetzt. Wir bestimmen unser Schicksal und kein anderer. Auch wenn wir ausgestoßen wurden, so haben wir doch nicht aufgegeben.«
»Ihr seid verdorben!«
Es wurde gelacht.
»Ihr gehört in die Hölle!«
Wieder wurde gelacht, aber man stellte Carlotta auch eine Frage. »Kann es nicht sein, dass wir aus der Hölle kommen? Ist nicht auch der Fürst der Finsternis ein Engel gewesen? Kennst du die große Geschichte nicht über ihn?«
»Doch, die kenne ich. Leider kenne ich sie. Durch ihn ist das Böse und die Niedertracht in die Welt gekommen, und leider hat er zu allen Zeiten seine Verbündeten und Diener gefunden, die ihm zur Seite stehen. Sogar Engel hat er in diese Richtung gezwungen, als er sie mit in sein Reich nahm.«
»So kann man es sagen«, bestätigte die Gestalt an Carlottas rechter Seite, bevor sie an ihrem Arm zog und sie praktisch zwang, in ihr Gesicht zu schauen. »Und du? Was ist mit dir? Fühlst du dich nicht auch als Engel?«
»Nein, ich…«
»Aber du hast Flügel. Du könntest in diese Reihe passen.«
Carlotta schüttelte den Kopf. »Nein, dazu gehöre ich auf keinen Fall. Ich bin ein Mensch.«
Der harte Griff schüttelte sie durch. »Warum lügst du? Schau dich einfach nur an.«
»Ich bin trotzdem ein Mensch. Ich bin ein genmanipuliertes Geschöpf. In einem Labor hat man mich gezüchtet. Ein alter Traum der Menschen sollte verwirklicht werden. Menschen, die fliegen können. Das ist seit alters her der große Wunsch - sich wie ein Vogel fühlen. Bei mir hat man es geschafft. Ich bin einmalig.«
»Ja, das glauben wir dir. Aber hier ist für dich alles anders. Wir sind gleich in der Arena. Da wirst du noch einmal zeigen müssen, wie stark du bist. Und ich kann dir sagen, dass wir gern mit starken Feinden kämpfen…«
Es war so etwas wie ein Schlusswort, denn Carlotta erhielt einen Stoß in den Rücken, der sie nach vorn trieb. Sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, stolperte vorwärts und wurde wieder zurückgezogen, als rechts von ihr ein Durchgang zu sehen war, der zu einer Galerie führte, von der aus der Blick in die Arena glitt. Die Galerie wirkte wie eine Aussichtsplattform, und an ihrer Vorderseite führte eine Treppe in die Tiefe. Hin zu den zahlreichen Leichen.
Das sah Carlotta mit einem Blick. Aber sie sah noch mehr. Es gab nicht nur Leichen. Innerhalb dieser schaurigen Szenerie bewegten sich Menschen mit langsamen Schritten.
Eine Frau und ein Mann.
Carlottas Herz schlug plötzlich wie wild, denn sie kannte die beiden Personen.
Es waren Maxine Wells und John Sinclair!
***
Wir hatten den Schrei gehört und wussten, dass er von einem Menschen ausgestoßen worden war. Er hatte uns auch nicht aus der Höhe erreicht, und so gingen wir davon aus, dass er hinter den Mauern aufgeklungen war. Was es dort zu sehen gab, wussten wir nicht, wir kannten nur den Zweck dieses Bauwerks.
Maxine Wells war zwar eine mutige Frau, doch in diesem Fall sah ich sie nicht gern an meiner Seite, denn sie war waffenlos. Ich überlegte schon, ob ich ihr nicht meine Beretta überlassen sollte. Damit zögerte ich, denn ich wollte erst einen Blick hinter die Mauern werfen.
Wir waren schnell gelaufen. Unsere heftigen Tritte hatten den Staub aufwölken lassen, der als dünne Schicht den Boden bedeckte.
Der große Eingang kam uns vor wie ein gewaltiges Maul, das uns schluckte.
Allerdings gerieten wir nicht in einen finsteren Schlund, sondern traten in eine helle Szenerie. Doch dann gingen wir nicht weiter, denn was wir sahen, schockte uns.
»Mein Gott!«, hauchte Maxine. Sie lehnte sich an mich. »Sag, dass es nicht wahr ist, John. Bitte…«
Auch ich sah das grauenhafte Bild, das sich unseren Augen bot.
Der runde Boden der Arena war mit Leichen bedeckt. Wir nahmen auch Verwesungsgestank wahr. Manche waren längst verfallen, und so fielen unsere Blicke auch auf Skelette oder Gestalten, die halb skelettiert waren.
Wir waren sofort stehen geblieben, und ich spürte, wie Maxine nach meiner rechten Hand tastete, um einen Halt zu finden.
Der Anblick war einfach furchtbar und nicht zu fassen. Ein Leichenfeld, für das die Nephilim verantwortlich waren. Wir hatten einen Schrei gehört, aber wir sahen keinen lebendigen Menschen, der ihn ausgestoßen hätte.
Maxine sprach das aus, was ich ebenfalls dachte. Und sie fasste es in einem Wort zusammen.
»Carlotta…«
Es war nur ein Hauch, nicht mehr, aber Maxine hatte genau den Kern getroffen.
Meine Kehle war zu. Ich konnte nicht
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