1648 - Geister der Vergangenheit
und dann lauerte unter ihr nur noch die Tiefe, in die sie fiel.
Ihr lang gezogener Schrei hallte als grauenvolles Echo über die Baustelle hinweg. Er wurde jedoch öfter unterbrochen, wenn der Körper gegen einen der quer stehenden Träger prallte. Dann schien sie für einen Moment innezuhalten, bevor sie weiterrutschte und dem harten Boden immer näher kam.
Das letzte Stück legte sie im freien Fall zurück. Da konnte sie nicht mal mehr schreien.
Sie fiel stumm ihrem Tod entgegen. Es gab nur noch ein Geräusch, und das hörte sich schlimm an, als der Körper auf den harten Boden prallte und sich nicht mehr bewegte…
Aus der Höhe hatte Duras den Weg seiner Frau in die Tiefe verfolgt. In diesen Augenblicken, die für ihn so schrecklich waren, hatte er die Geister vergessen.
Es gab nur noch Martine für ihn, und diese großen Lücken zwischen den Trägern, die ihm eine gute Sicht ermöglichten. Es war wie ein Zwang, er konnte einfach nicht wegschauen, und als der Körper unten aufschlug, löste sich ein irrer Schrei aus seinem Mund.
Martine war tot. Er lebte, und erst jetzt wurde er wieder an die Geister erinnert, die noch immer in seiner Nähe waren. Er spürte ihre Kälte, er hörte ihr Wispern, das ihn mehr an Schreie erinnerte, und einen Satz nahm er besonders intensiv wahr.
»Wir nehmen dich mit in die Hölle!«
Das war für Marc Duras zu viel. Schon als Kind hatte er die Hölle gehasst. Er wollte nicht hinein. Der Himmel war immer sein Ziel gewesen, das hatte ihm seine Mutter auch stets eingeflößt.
»Nicht die Hölle!«, brüllte er und ließ den senkrechten Balken los, an dem er sich noch festgeklammert hatte.
Seine Frau war nach hinten gefallen.
Er gab sich Schwung nach vorn. Auch da war nichts, woran er sich festhalten konnte.
Er kippte in die Tiefe und bekam das Verschwinden der Geister noch am Rande mit.
Dann schlug er mit dem Gesicht zuerst gegen die Kante einer Querstrebe. Er spürte noch einen Blitz im Kopf, fiel weiter, wurde wieder für einen kurzen Moment aufgehalten und landete schließlich als Toter auf dem Erdboden…
Jetzt lagen zwei Tote vor unseren Füßen. Wir hatten es nicht geschafft, sie zu retten, und wieder einmal wurde uns klargemacht, dass das Leben kein Drehbuch war, wo zum Finale der große Retter erschien und alles wieder ins Lot brachte.
Wir hatten nichts tun können. Wir wären zu spät gekommen, und auch unsere geweihten Silberkugeln hätten nichts ausgerichtet. Sechs Geister hatten wir vernichtet, aber die letzten vier hatten es geschafft, ihre Rache durchzuziehen.
Marc Duras war tot. Er lag neben seiner ebenfalls toten Frau. Ob die vier Geister daran die Schuld trugen, konnten wir nicht sagen. Für einen Moment hatte es so ausgesehen, als hätte er sich selbst den nötigen Schwung gegeben, um sich in den Tod zu stürzen.
Und die Geister?
Sie waren nicht mehr zu sehen. Vielleicht hatte die Hölle sie geholt, wo sie ihren teuflischen Frieden mit der Schlange fanden, die sie angebetet hatten.
Uns war das im Prinzip egal. Es war nur so unendlich traurig, dass die andere Seite eine ganze Familie ausgelöscht hatte. Die Tochter, die Mutter und den Vater.
Voltaire fand zuerst die Sprache wieder.
»Genau das sind die Momente, wo ich es verfluche, Polizist zu sein.«
Suko und ich nickten nur.
Wir verstanden ihn, denn dieses Gefühl war uns nicht fremd…
ENDE
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