1655 - Die »Heiligen« von London
Sie wollten die Welt befreien, und dafür hatten sie alles getan, um zu diesem Punkt zu gelangen. Jetzt saßen sie wieder zusammen im Keller. In ihrem perfekten Versteck. Greg, in dessen Gesicht der dünne Bartstrich auf der Oberlippe auffiel, schaute zu, wie Gory, sein Freund und Vertrauter, das Messer reinigte. Er tat es sehr langsam. Die Klinge hatte er bereits blank bekommen, aber sie war ihm nicht blank genug, deshalb polierte er sie noch nach, wobei er auf das Metall hauchte und es dann abwischte. Schließlich legte er die Waffe auf seine Knie, nickte, hob den Kopf an und lächelte seinem Bruder im Geiste zu.
»Es ist wieder bereit…«
Greg nickte. Es sah nicht besonders überzeugend aus, und das merkte auch Gory.
»Passt dir was nicht?«
»Ich weiß nicht…«
»Was weißt du nicht?«
»Ich kann mir vorstellen, dass wir Sinclair unterschätzt haben. Wir hätten nicht mit ihm spielen, sondern ihn töten sollen. Er ist uns nahe gekommen, wir hätten die zweite Tat fast nicht mehr geschafft.«
Gory blies die Wangen auf. »Aber ist es nicht zwischen uns so ausgemacht worden?«
»Ja, das schon. Da sage ich auch nichts. Aber wir sollten uns vor ihm in Acht nehmen.«
»Dazu müsste er uns finden«, gab Gory zu bedenken.
»Das stimmt.«
»Bis hierher wird er es kaum schaffen. Unser Versteck ist sicher.«
»Das hoffe ich.«
Beide schwiegen in den folgenden Sekunden. Hin und wieder strich Greg über seinen dünnen Bart oder glättete sein Haar, das bis über die Ohren wuchs. Wenig später berührte er sein Gesicht, knetete die Haut, als wollte er seinen Kreislauf in Gang bringen. Dabei entstand ein schwacher grüner Schimmer, den auch Gory wahrnahm.
»Denkst du an damals?«
»Das ist noch nicht so lange her.«
Gory nickte. »Stimmt. Aber ich fühle mich auch hier wohl. Wir sind jetzt zwei Heilige. Wir haben uns das versprochen. Wir haben so viel über die Heiligen gehört. Sie werden verehrt, und ich will, dass auch wir verehrt werden.«
»Das kann kommen. Aber nicht, solange dieser Sinclair noch lebt und uns jagt. Wir hätten das Spiel mit ihm nicht anfangen sollen. Aber jetzt ist es zu spät.«
»Wir schaffen es schon.«
»Das hoffe ich.«
Wieder schwiegen sie. Nach einer Weile fragte Greg: »Wer steht jetzt noch auf unserer Liste?«
»Du weißt es. Terence Haie. Er hat alles gewusst. Wie auch dieser Derek Sanders. Ihn werden wir uns holen.«
»Und wann?«
Gory verengte die Augen. »Heute noch. Dann sind wir hier fertig und können uns um andere Dinge kümmern.«
»Sinclair?«
Gory nickte. »Wenn er uns zu nahe kommt, schon. Dann holen wir ihn uns.«
»Und jetzt?«
»Terence Haie.«
Greg nickte. Dann stand er auf. Auch sein Bruder im Geiste tat es. Beide umarmten sich, beide küssten das Messer.
Danach verließen sie ihr Versteck…
***
Irgendwann würde sein Traum wahr werden, daran hatte Terence Haie immer geglaubt. Dann würde er das Haus leiten und keinen Vorgesetzten mehr haben. So weit war es leider nicht gekommen, und er musste sich mit dem Job des Stellvertreters begnügen, auch wenn er im Moment der Boss war, weil der richtige Chef mit gebrochener Schulter im Krankenhaus lag und dort auch noch eine Weile bleiben würde.
Bis dahin war er der Herr im Haus. Da konnte er schalten und walten, wie er wollte, und vor allen Dingen gewisse Verbindungen fester knüpfen.
Verbindungen nach außen hin. Zu Leuten, die Macht besaßen und auch die entsprechenden finanziellen Mittel. Private Geldgeber für das Heim, denen man natürlich hin und wieder einen Gefallen erweisen musste. So wie Paul Sanders. Ein Mann, der immer wieder große Summen spendete und nicht mal eine Bescheinigung dafür wollte. Man musste ihm nur eine kleine Bitte erfüllen. Er war jemand, der Jungen mochte, und da saß Terence Haie an der Quelle. Hin und wieder ließ er den Geldgeber mit seinen jungen Freunden allein, die dann von Sanders verwöhnt wurden oder ihn verwöhnten, wovon die Zöglinge nicht viel mitbekamen, denn ihre so harmlos aussehenden Drinks waren stets präpariert worden. Haie hoffte darauf, dass Sanders' Einfluss ausreichte, um den jetzigen Chef von seinem Posten zu entfernen. Das wäre dann auch für Sanders positiv gewesen. So hatte Terence Haie bis zu der Minute am Nachmittag gedacht, als er Sanders anrief. Er wollte mit ihm einige Dinge besprechen und hatte dann den großen Schock erlebt. Sanders lebte nicht mehr.
Der Mann war ermordet worden. In einem alten Fabrikkeller hatte man ihn gefunden.
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