1655 - Die »Heiligen« von London
Das hatte Haie von Sanders' Frau erfahren, und er war mehr als geschockt gewesen. Seine Pläne für die Zukunft waren wie ein Kartenhaus zusammengestürzt. Er musste wieder neu anfangen zu denken. Den Chefsessel würde er nicht mehr erreichen. Er hatte Mrs. Sanders auch gefragt, ob der Mörder bereits gefunden worden war, aber da hatte er keine Antwort erhalten. Der Killer lief noch frei herum. Terence Haie wollte den Rest des Tages allein sein. Er würde keinen Besuch empfangen und auch keine Anrufe entgegennehmen. Er war in seine Wohnung unter dem Dach des Heims gegangen, wo ihm drei Zimmer plus Bad zur Verfügung standen. Hier konnte er hocken und über seine Zukunft nachdenken, aber auch über die Vergangenheit. Sie und die Zukunft drehten sich um den ermordeten Paul Sanders. In den letzten beiden Wochen hatte sich Sanders verfolgt gefühlt. In einem vertraulichen Gespräch hatte er mit Haie darüber gesprochen, doch er hatte nichts Konkretes sagen können. Es war nur ein Gefühl gewesen, das immer stärker geworden war. Sanders hatte seine Verfolger nicht gesehen, aber manchmal gehört, wenn er auf seinem Handy angerufen wurde und dieses scharfe Atmen und Flüstern gehört hatte. Da war seine Angst schon gestiegen. Zu recht, wie Haie jetzt zugeben musste. Der geheimnisvolle Verfolger war dem Mann so nahe gekommen, dass er ihn sogar hatte töten können.
Diese Tatsache machte auch Haie Angst, denn er und Sanders waren Verbündete gewesen. Haie war nicht dumm, er dachte darüber nach, ob der kleine Gefallen, den er Sanders getan hatte, möglicherweise an die Öffentlichkeit gelangt war. Auszuschließen war es nicht, doch es durfte auf keinen Fall publik werden. Die Angst war da und blieb auch. In seiner Wohnung unter dem Dach fühlte sich Haie nicht mehr wohl. Zu schlimm waren seine Gedanken, die sich mit der Zukunft beschäftigten. Und natürlich mit der Gegenwart. Der Killer lief frei herum, bestimmt war er über Sanders' Aktivitäten informiert gewesen und war möglicherweise schon auf dem Weg, um eine neue Tat zu begehen.
Immer wenn Haie daran dachte, rann ein Schauer über seinen Rücken, weil er sich im Focus des Mörders sah, obwohl er keine Beweise dafür hatte. Der Wohnraum war am größten und zudem mit zwei Dachgauben bestückt. Durch die Fenster fiel der Blick auf die Dächer der umstehenden Häuser. Über manchen schwebte ein blass grauer Rauch, der aus zahlreichen Kaminen drang. Er sah den Himmel, er sah Kirchtürme, aber nicht die nahe Themse.
Der Wohnraum glich einer Bibliothek. Dicht an dicht standen die Bücher in den Regalen, zwei schwere Sessel, ein Holztisch und natürlich ein Schreibtisch waren ebenfalls vorhanden. Der Raum atmete eine stille konservative Atmosphäre aus, aber Laptop und Telefon sorgten für eine gewisse Modernität. Nur eine Glotze gab es hier nicht, denn die stand im Haies Schlafzimmer.
Haie hatte sich hier immer wohl gefühlt und war auch mit seinem Junggesellendasein zufrieden gewesen, ab heute jedoch kroch die Furcht in ihm hoch. Wenn er das Herumgehen leid war, setzte er sich in seinen Sessel, doch auch dort fand er keine Ruhe. Immer wieder starrte er das Telefon an, obwohl er darum gebeten hatte, keine Gespräche zu ihm durchzustellen.
Sein Leben hatte einen Knick bekommen. Er würde sich darauf einstellen müssen. Vielleicht war es sogar gut, wenn er den Arbeitsplatz wechselte. Mit seiner Erfahrung würde er auch woanders einen Job bekommen, daran glaubte er fest. Hin und wieder trank er einen Schluck Wasser. Keinen Alkohol, denn er wollte nüchtern bleiben, weil er nicht wusste, was noch alles auf ihn zukommen würde. Draußen war die Luft noch immer kalt. Tagsüber hatte die Sonne nur mal kurz geschienen, sodass sich die Temperatur nicht erwärmt hatte. Jetzt schwebte ein leichter Dunst über den Dächern der Häuser. Er hatte sich in der Nähe des Flusses gebildet und war von dort aus in die Höhe gestiegen.
In der Wohnung war es warm. Zu warm für Haies Geschmack. Zumindest ein Fenster wollte er öffnen, sodass sein Blick frei und seine Gedanken wieder klarer wurden. Aus einem Etui holte er eine Zigarette. Hin und wieder rauchte er, was den Heiminsassen natürlich verboten war. Aber er war der Chef. Er stellte sich ans Fenster, nachdem er es geöffnet hatte, sog an der Zigarette und blies den Rauch nach draußen.
Die Dämmerung würde bald einsetzen.
Die kalte Luft kühlte sein Gesicht. Haie wollte so lange stehen bleiben, bis die Zigarette zu einer Kippe
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