1665 - Boccus Traum
Meter. Er lag mitten in einem kleinen Talkessel, aus dem eine Schlucht hinausführte. Überall in die Felswände hatten die Vorfahren der heute lebenden Nasran mit ihren primitiven Werkzeugen die Wohnhöhlen hineingeschlagen. Genau 31 Eingänge gab es - zu 31 Höhlen, in denen im Durchschnitt zehn Nasran lebten. Manchmal waren es dreimal so viele, manchmal nur drei oder vier.
Ein ganz allein wohnender Nasran war die große Ausnahme. Boccu war so ein Fall.
Niemand von den anderen konnte sich daran erinnern, wann es zuletzt einen solchen Einsiedler gegeben hatte. Schon deshalb war alles, was Boccu tat, für die anderen von Interesse.
Der zweite Grund war-, daß er ein Dritter war. Und zwar einer, der seine besondere Rolle voll ausnutzte. Einigen Stammesgenossen machte das nichts aus. Sie nahmen ihn, wie er war. Andere beobachteten ihn voller Mißtrauen, hinter dem vielleicht auch ein gewisser Neid steckte. Zu ihnen gehörte leider auch Vullum, der alte Häuptling des Stammes.
Vullum stand in drohender Haltung vor dem unglücklichen Dritten und blickte auf ihn hinab. Er hatte sich tatsächlich die Zeit genommen, sein Häuptlingsgewand überzuziehen, einen bunten Umhang mit Löchern für den Kopf und die beiden Arme. Überall waren magische Zeichen aufgemalt oder -gestickt, Ausdruck seiner Würde. Nur Vullum durfte die Götter und die Geisttiere anrufen. So jedenfalls schrieb es das Stammesgesetz vor, um das Boccu sich recht wenig kümmerte.
Es mußte eine Menge Wut in Vullum stecken, die ihm die Kraft gab, sich auf durchgestreckten Beinen zu halten, ohne daß sein Kugelkörper ins Schwanken kam. Die Ärmchen waren in die Seiten gestemmt, die Noppenfinger bewegten sich unruhig und drohend. Vullums Miene war eine einzige Anklage. „Du wirst uns eine Erklärung geben, Boccu", verlangte der Häuptling mit lauter Stimme. Seine Ohrspitzen zitterten. Auch das war kein gutes Zeichen.
Rechts und links von ihm standen Dussa und Herlo, die beiden übelsten Neider und Verleumder des Stammes; sie zeigten offen ihre Freude über die Lage des Dritten.
Boccu, der sich etwas erholt hatte, spürte sofort wieder neue Übelkeit bei ihrem Anblick. Sie trugen ähnliche Sackgewänder wie Vullum, natürlich ohne dessen Zeichen der Würde. Boccu wußte trotzdem nur zu gut, daß sie begierig auf den Tag warteten, an dem Vullum vom Todesdrachen geholt und für immer in die Abgründe der Anderswelt verschleppt wurde. „Du wirst uns jetzt sagen, welche bösen Geister dich Unseligen dazu getrieben haben, mitten in der Nacht aus der Höhle zu rennen und dich mit lautem Geschrei in den Brunnen zu stürzen", fuhr Vullum gnadenlos fort. „Du wirst es uns ganz genau begründen und darfst nur hoffen, daß uns deine Worte zufriedenstellen. Bestraft werden mußt du so oder so. Wir werden deine Untaten keinen Tag länger mehr dulden, Boccu!"
„Ich ...", begann der Unglücksrabe. „Schweig!" Vullums Ohren zitterten und zuckten heftiger. „Weil du glaubst, als Dritter etwas Besonderes zu sein, freier und schlauer als wir, vergeht kaum ein Tag, an dem du uns keine Schwierigkeiten machst.
Sieh dir Kollun und Perrtu an. Sie sind auch Dritte, und leben sie etwa wie du?"
„Nein", antwortete Boccu kleinlaut.
Kollun und Perrtu - wie konnte er ihn mit ihnen vergleichen!
Sie waren dumm. Sie dachten und fühlten wie alle anderen hier. Selbstzufrieden waren sie, träge, geistig unbeweglich. Dritte wurden gebraucht, wenn es darum ging, Nachwuchs zu zeugen. Das Zeugen ging bei den Nasran nicht, ohne daß ein Dritter dabei war, wenn Mann und Frau geschlechtlich zusammenkamen. Das war immer so gewesen, und vom Geistvogel wußte Boccu auch, daß es bei den anderen Stämmen nicht anders war. Ein Dritter mußte zugegen sein, wenn Nasran sich paarten, um als Helfer und Betreuer an dem Akt teilzunehmen.
Das war einfach so. Niemand hatte sich je gefragt, warum eigentlich. Denn niemand kannte Lebewesen, bei denen es anders war. Selbst die Tiere in diesem Land machten es so. Bei ihnen, das hatte Boccu beobachtet, waren die Dritten vielfach die Anführer eines Rudels oder einer Herde.
Daß es einmal keine Dritten mehr geben würde und der Stamm zum Aussterben verurteilt wäre, konnte sich niemand vorstellen. Es gab die Nasran, also hatten die Schicksalsgötter dafür gesorgt, daß es auch immer Kinder gab, die sich während der Reife zu neuen Dritten entwickeln würden. Geschlechtlich gesehen, waren sie Neutren.
Sie waren weder Mann noch Frau. Sie hatten von
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