1665 - Boccus Traum
beiden etwas, aber nie genug, um sagen zu können: „Ich bin ein Mann, ich bin eine Frau, hier gehöre ich her."
Sie waren Neutren, und es gab sie selten. Aber ohne sie würde kein Stamm weiterleben.
Wer klug war, der nützte diesen Umstand aus und erlaubte sich, was andere niemals wagten. Das war jedenfalls Boccus Philosophie. Daß er viel neugieriger und unternehmungslustiger war als die dummen anderen, konnte auch Zufall sein. Aber als ein Dritter konnte er es sich leisten, seine Neigungen auszuleben. Das hieß in seinem Fall, daß er zurückgezogen und allein lebte und gewisse Geheimnisse bewahrte.
Na ja, dachte er, als er sich damit Mut zu machen versuchte, aber gleichzeitig die Gesichter der anderen sah, gewisse Grenzen sind auch mir gesetzt. „Helft ihm auf!" befahl der Häuptling Kollun und Perrtu. Sie gehorchten mit sichtbarem Widerwillen und packten Boccu an beiden Seiten. Sie stemmten ihn hoch, bis er schwankend auf eigenen Füßen stehen konnte, und Perrtu nutzte die Gelegenheit, um ihn gemein in den Rücken zu kneifen - da, wo niemand es sah und es am schmerzhaftesten war.
Boccu schrie auf. Die anderen Nasran wichen entsetzt zurück, bis auf Vullum. Der Häuptling richtete das fette rechte Ärmchen anklagend auf den Dritten und verkündete, daß es von jedermann gehört werden konnte: „Ich brauche keinen weiteren Beweis dafür, daß du von bösen Geistern besessen bist, Boccu! Ich habe mich mit den Göttern beraten. Damit dir deine Flausen vergehen und du begreifst, daß du nicht besser bist als der Geringste von uns, mußt du zur Buße zehn Tage in den Pilzhöhlen verbringen. Das wird dir Gelegenheit geben, über deinen Stolz und dein überhebliches Verhalten nachzudenken."
Ein Raunen ging durch die Reihen der Nasran. Die Pilzhöhlen!
Das war eine harte Strafe dafür, sich mit bösen Geistern einzulassen und den Stammesfrieden zu brechen. In die Pilzhöhlen ging niemand freiwillig. Ihr einziger Eingang befand sich außerhalb des Talkessels. Dort gelangte man durch ein großes Loch im Boden in die Unterwelt, ein Labyrinth aus Stollen und Höhlen, in denen die begehrten Pilze wuchsen. Für die Nasran war es jedesmal ein ganz großes (aber leider auch seltenes) Fest, wenn ein Verurteilter zurückkam und seine gefüllten Körbe ins Dorf getragen wurden. ;Das Land hinter der Schlucht war zwar fruchtbar und wurde fleißig bestellt, aber der Verzehr von immer dem gleichen Grünzeug wurde irgendwann langweilig. Die Nasran hätten allen Grund gehabt, auf ihre Tätigkeit als Ackerbauern stolz zu sein. An der Grenze zum Anderland blickten sie auf ein regelrechtes Paradies mit vielen großen Bäumen und Früchten, dazu mit vielen kleinen pelzigen und gefiederten Tieren. Aber dort war eben die Grenze, die bisher kein Nasran überschritten hatte, solange Boccu lebte und zurückdenken konnte. Die Früchte dort waren verbotene Früchte - und keine anderen Früchte schmeckten so gut wie die, welche man nicht bekam.
Die Pilze aus den Höhlen waren daher eine hervorragende Abwechslung im eintönigen Essen des Stammes, und außerdem schickten die Geister dem, der sie aß, wunderschöne Träume und Gefühle.
Nur holen wollte sie keiner. Nicht nur, daß es in den Höhlen feucht und dunkel war, die Luft stickig und der Felsboden glatt. Es bestand immer die Gefahr, daß das Land wieder zu beben begann oder sich gar die Unterwelt selbst öffnete und das flüssige Feuer der Roten Dämonen ausspie.
Mit anderen Worten: Die Chancen, die Höhlen gesund und lebend zu verlassen, waren nicht sonderlich groß.
Alles das schoß Boccu jetzt durch den Kopf, aber er wußte, daß es keinen Sinn hatte, um Gnade zu bitten -selbst wenn sein Stolz das überhaupt zugelassen hätte. Der Häuptling wollte gar nicht wissen, was mit ihm geschehen war. Ihm kam es darauf an, daß er wieder einmal jemanden in die Pilzhöhlen schicken konnte, der ihm seine Köstlichkeiten heraufholte. Denn natürlich aß Vullum immer zuerst, und zwar für seine ganzen angeblichen Geister mit.
Aber da konnte er diesmal lange warten, das schwor sich der junge Dritte.
*
Es war dunkel, aber nicht stockfinster. Etwas Licht kam vom Eingang herein, und ein wenig Helligkeit drang an vielen Stellen durch feine Spalten in den Höhlendecken. Der Fels war keine geschlossene feste Masse. Nirgendwo in diesem Land war das so. Wenn die Dämonen, auf deren mächtigen Rücken das Land ruhte, sich schüttelten, dann bebte es überall. Es entstanden kleine Risse und
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