1665 - Boccus Traum
geschmerzt, und was in seinem Kopf vorging, dafür gab es in seiner Sprache überhaupt keine Worte.
Es war die Hölle gewesen. Jetzt ging es ihm etwas besser, aber er wußte immer noch nicht, ob er sich freuen oder verzweifeln sollte. Die Sonne eines neuen Tages schien ihm auf den Bauch und trocknete die braune Brühe schnell aus, die ihn wie eine Kruste umgab. Das einfache Sackgewand, daß er anziehen mußte, als er seine Strafe angetreten hatte, war schlammgetränkt, hart und brüchig.
Boccu wußte, wo er war. Er hatte das halbe Land zwischen sich und das Labyrinth gebracht, hinter dem erst noch die Schlucht war und dann erst der Talkessel. Ob das Dorf jetzt verschüttet war?
Ob seine Stammesgefährten sich retten konnten oder ob etwa alle gestorben waren?
Das Beben! Solange er lebte, hatte das Land nur dann und wann einmal leicht gerumpelt und gezittert. Ein richtiges Beben hatte er noch nie erlebt. Und wann kam es? Genau an dem Tag, als er in die Unterwelt geschickt wurde! Wenn das kein Zeichen der Götter war!
Boccu ließ sich auf den Rücken fallen, streckte alle viere von sich und seufzte.
Sie hatten ihn strafen wollen, weil er so vermessen gewesen war zu glauben, daß er nur zu rufen brauchte, und schon ließen sie für ihn Wunder geschehen.
Fliegen, ha! Er war natürlich keinen Meter weit geflogen. Der erste Stoß des Bebens hatte ihn in die Höhe geschleudert, und dann war er geklettert. Obwohl völlig im Pilzrausch, mußten seine Sinne irgendwie registriert haben, daß sich gleich zu Beginn des Bebens eine breite Spalte über ihm aufgetan hatte, der Weg in die Freiheit, zum Licht und zum Leben. Und er war geklettert, hatte sich die Haut blutig geschürft und war von herabpolternden Steinen getroffen worden. Was er für goldenen Sternenstaub gehalten hatte, das waren die Tropfen des Regens gewesen, der das Land überschüttet hatte. Seine Sinne hatten ihn in die Freiheit und in die Sicherheit geführt, während sie ihm einen wunderschönen Himmelsflug im Schöße der göttlichen Gnade vorgaukelten.
Aber Boccu war gerettet, soviel stand fest.
Wenn die Götter so zornig auf ihn gewesen wären, hätten sie ihm nicht die Möglichkeit zur Flucht gegeben.
Dann wäre das Land über ihm eingestürzt und hätte ihn begraben.
Wenn er es recht betrachtete, dann hatten die Götter doch eigentlich gezeigt, daß sie mit ihm waren und guthießen, was er dachte und plante. Sie hatten ihm die Fluchtmöglichkeit gegeben, um die er sie bitten wollte. „Attan?" fragte Boccu leise. „Attan? Bist du da?"
Ich bin bei dir, Boccu, hörte der Nasran die wohlvertraute Stimme. Vor Glück vergaß er seine Schmerzen und kugelte sich auf die Füße. „Du lebst", frohlockte er. „Das schwarze Nichts hat dich also nicht aufgefressen!"
Ich habe versprochen, dich zu führen, antwortete der Geistvogel. Ich lebe, solange du mich brauchst und durch dein Rufen erschaffst. Erst wenn du mich nicht mehr brauchst, Boccu, wird mich das Nichts für alle Zeiten auslöschen.
Boccu hatte das Gefühl, daß er darüber nachdenken mußte. Das Nichts war gekommen und hatte Attan gefressen, obwohl Boccu ihn brauchte. Gab es etwas, das er noch nicht verstand?
Und warum war Attan dann nicht gekommen, als er in den Brunnen gefallen war und nach ihm rief?
Der Geistvogel antwortete nicht. Boccu fand auch, daß das Zeit hatte. Erst jetzt wurde ihm richtig klar, daß er den ganzen langen Weg vom Labyrinth bis hierher gekrochen und nun sehr weit vom Dorf entfernt war. Nur noch eine Stunde, wenn er schnell ging, und er war an der Grenze.
Dort, wo eine neue, unbekannte Welt begann...
Plötzlich dachte er ehrfürchtig daran. Bisher hatte er sich immer nur über die Dummheit seiner Stammesgenossen lustig gemacht, weil sie glaubten, nur ein Schritt über die Grenze bedeutete schon, daß man rettungslos verloren wäre, weil man das Dorf (oder vielmehr den Eingang der Schlucht) aus den Augen verlor - und damit jeden Halt.
Jetzt aber, als er wußte, daß er gehen würde, mußte er trocken schlucken. „Geistvogel...?" fragte er zaghaft. Ja, Boccu? „Du wirst mich auch wirklich führen? Gut und sicher führen?" So gut ich es kann, Boccu. „Ich ... ich vertraue dir, Attan. Warte nur einen Augenblick. Es ist immerhin ein Abschied, nicht wahr?"
Attan schwieg. Alles schien plötzlich zu schweigen. Er sah sich lange um. Er stand mitten in einem der Äcker, in dem seine Stammesgefährten sonst Gemüse und Korn anbauten. Jetzt war es ein Tümpelfeld. Rechts
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