1665 - In der Totenstadt
wie von einem Magnet. »Ist sie wirklich tot?«
»Warum sollte ich lügen?«
Jenny schauderte und flüsterte die nächste Frage. »Aber warum hat sie diesen roten Streifen am Hals? Ist das Blut?«
»Nein, eine Schlinge.«
»Wie?«
Eve strich über ihre Schulter. »Damit töten die Ghouls. Sie erwürgen ihre Opfer.«
Jenny war erneut geschockt. Sie konnte keine Antwort geben. Dafür spürte sie den Schwall an Übelkeit, der in ihr hochstieg und sie zum Würgen brachte.
»Und was passiert mit uns?«, rang sie sich ab.
Eve winkte ab. »Wir gehören ihnen. Daran kannst du nichts ändern. Das Schicksal dieser Frau wird auch das unsere sein.«
Jenny wäre am liebsten schreiend weggelaufen. Sie fand nicht die Kraft und glaubte auch nicht, dass die andere Seite es zulassen würde, obwohl sie im Moment keinen der Mörder sah. Diese stinkenden Bestien hielten sich bestimmt an strategisch günstigen Stellen versteckt und beobachteten sie. Wenn ihr jemand die Flucht ermöglichen konnte, dann war es Eve, doch Jenny war sich nicht darüber klar, welche Rolle sie spielte. Die Ghouls hatten sie bisher verschont, aber warum? Darüber machte sie sich Gedanken, und sie dachte sogar daran, dass Eve mit ihnen paktierte. Den Gedanken wollte sie nicht mehr weiter verfolgen. Dafür sagte sie: »Kennst du die Frau?«
»Ja.«
»Woher?«
»Man hat uns entführt. Sie, Shirley und mich.«
Jenny war überrascht. Plötzlich war ein neuer Name ins Spiel gekommen. Sie wiederholte ihn mit leiser Stimme und fragte dann genauer nach. »Wer ist Shirley?«
»Eine von uns. Shirley, Susan und ich waren gemeinsam unterwegs. Man hat uns auf der Straße abgefangen und in diese Welt hier entführt.«
»Wann war das?«
»Vor ein paar Tagen. Zwei Ghouls stoppten unseren Wagen.« Eve lachte bitter. »Sie haben sich einfach dagegen geworfen und uns dann rausgeholt. Den Rest kennst du. Dir ist ja Ähnliches passiert.«
»Das kann man wohl sagen«, murmelte sie. »Aber warum seid ihr mitten in der Nacht unterwegs gewesen?«
»Weil wir unbedingt noch nach London mussten. Dort war ein Auftritt geplant.«
»Was denn für einer?«
»Wir sind - nein, wir waren eine Gesangsgruppe, die auf kleinen Bühnen auftritt. Wir machen in Nostalgie. Singen Songs aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts und haben uns damit schon einen Namen gemacht. Das ist jetzt vorbei.«
Jenny musste sich das erst mal durch den Kopf gehen lassen, was nicht leicht war. Hier trafen die Normalität und der Schrecken aufeinander, und sie wollte auch wissen, warum Eve es noch nicht mit einer Flucht versucht hatte.
»Es hätte keinen Sinn gehabt. Auch wenn du sie nicht siehst, sie haben alles unter Kontrolle.«
»Und wie hoch ist die Zahl dieser stinkenden Monster?«
»Das kann ich dir leider nicht sagen. Ich weiß es nicht. Hier könnte ein Nest sein.«
»Ich-will es trotzdem versuchen, Eve.«
»Was?«
»Die Flucht.«
»Lass es, Jenny!«
»Warum?«
»Ich bitte dich. Du würdest nur in dein Verderben laufen. Im Moment ist von den Ghouls nichts zu sehen, aber denke nur nicht, dass sie uns nicht unter Kontrolle haben.«
Jenny deutete auf die Tote. »Deine Freundin Susan haben sie hier einfach hingelegt.«
»Ich konnte es nicht verhindern.«
»Glaube ich dir. Und wo steckt Shirley? Ist sie auch tot?«
»Das will ich nicht hoffen.«
Als wäre ein Stichwort gefallen, so sahen sie plötzlich direkt gegenüber, wo zwei fahle Lampen sehr schwaches Licht abgaben, eine Bewegung. Beide standen plötzlich unter Spannung, weil sie damit rechneten, Besuch von einem Ghoul zu bekommen. Da hatten sie sich geirrt. Aus dem grauen Dunkel des Hintergrunds löste sich eine Gestalt, die alles andere als ein Ghoul war. Eine Frau trat vorsichtig auf die Straße, und Eve atmete plötzlich schneller.
Jenny wusste, was sie zu fragen hatte, obwohl sie sich die Antwort denken konnte.
»Ist das Shirley?«
»Ja.«
»Dann lebt sie ja!«
»Ich denke schon.«
»Willst du sie nicht rufen?«
»Nein, noch nicht.«
Nach dieser Antwort riss sich Jenny zusammen und wartete ab, was Shirley vorhatte. Zunächst betrat sie die Straße mit dem unebenen Pflaster. Sie sah sich dabei um wie jemand, der herausfinden will, ob die Luft rein ist.
Für Shirley war sie rein, denn sie ging jetzt auf die regungslose Gestalt zu.
»Was will sie?«, hauchte Jenny. »Warte es ab.«
Shirley ging noch einen weiteren Schritt, dann hatte sie die Höhe des Kopfes erreicht und sank dort mit einer langsamen Bewegung
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