1665 - In der Totenstadt
Kopf noch ein wenig nach unten und schob zugleich seine Hände unter die Schultern der Toten. So konnte er sie leicht anheben und in seine Richtung bringen. Jetzt grinste er nicht mehr.
Dafür hatte er sein Maul, das alles fraß, was sich in seiner Nähe befand, weit geöffnet. Er zerrte die leblose Gestalt noch ein wenig höher, um die ideale Position zu erreichen. Dabei kippte der Kopf der Toten zur linken Seite, was ihm jedoch nichts ausmachte, denn sein mörderisches Gebiss näherte sich der rechten Wange, um sie aufzureißen. Wie Jenny sich fühlte, wusste sie nicht. Es kam ihr sogar vor, als hätte sie sich in eine fremde Person verwandelt. Sie stand zwei Schritte vom Geschehen entfernt und hätte eingreifen können und müssen, obwohl sie wusste, dass ihr dieser Leichenfresser überlegen war.
Wie konnte sie dieses furchtbare Mahl verhindern? Die Reaktion erfolgte automatisch. Bisher hatte sie ihre Emotionen zurückhalten können. Nun brachen sie aus ihr hervor. Sie merkte nicht mal, dass sie tief Luft holte, aber die Folgen davon waren zu hören. Sie entluden sich in einem gellenden Schrei!
***
Jenny hatte keine Ohren an dieser Gestalt gesehen. Sie wusste auch nicht, ob dieser Ghoul etwas hörte, und sie hatte den Schrei auch nicht bewusst abgegeben, aber es war genau das Richtige in diesem Augenblick, denn der Ghoul hatte ihn gehört. Er zuckte zusammen und ließ sein Opfer los. Der Kopf und ein Teil des Oberkörpers fielen nach unten, und der dumpfe Aufprall war deutlich zu hören. Die Tote lag wieder da, wo sie zuvor gelegen hatte. Aber der Ghoul drehte den Kopf nach links, und plötzlich starrte er Jenny Mason an. Sie konnte nun einen Blick auf sein Gesicht werfen und sah darin tatsächlich die kleinen Augen, die wie Glasperlen in die weiche Masse hinein gedrückt waren. Auch das Maul war nicht geschlossen. Obgleich die Gestalt keinen festen Kiefer hatte, befanden sich unten und oben spitze Zahnreihen, zwischen denen die langen und stinkenden Schleimfäden klebten. Aber den Gestank nahm sie schon gar nicht mehr wahr, es ging ihr um die Gestalt, die sich auf sie konzentrierte. Der Leichenfresser erhob sich mit langsamen Bewegungen. Alles wirkte plump bei ihm. Der Schleim auf seinem Kopf bewegte sich. Als er seine obere Körperhälfte schüttelte, lösten sich Schleimtropfen und landeten klatschend auf dem Boden. Eve hatte als Zeugin alles mitbekommen, war jedoch nicht in der Lage gewesen, etwas zu tun. Erst jetzt fand sie ihre Sprache wieder, und Jenny hörte die Stimme hinter ihrem Rücken.
»Warum hast du das getan? Jetzt wird er sich an uns rächen…«
Jenny wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie befand sich in einer fremden Welt, und sie kam sich selbst fremd vor. Aber bestimmte Eigenschaften hatte sie nicht verloren. Sie hätte nicht zuschauen können, wie ein Mensch einfach vertilgt wurde. Nun aber war sie an der Reihe!
Der Ghoul hatte sein eigentliches Opfer vergessen. Ein neues befand sich in seinem Blickfeld. Allerdings ein lebendes, und das wollte er ändern. Noch trug er ein Würgetuch bei sich. Er hielt die Enden mit seinen Händen fest. Er ließ es kreisen, um Jenny Mason zu zeigen, was er mit ihr vorhatte. Sie hatte es begriffen und wich noch weiter zurück. Dabei bemerkte sie, dass Shirley aus ihrer Nähe kroch. Was Eve tat, sah sie nicht. Sie stand hinter ihr, und es war nur ihr heftiges Keuchen zu hören.
Der Ghoul kam näher. Bei jedem seiner Schritte schwankte der Körper, als würde er sich auf einem unruhigen Wasser bewegen. Aber es war nur die Masse Schleim, die auch innerhalb der Kleidung nicht zur Ruhe kam.
Jenny ging jetzt schneller zurück, ohne dass sie nach hinten schaute. Deshalb prallte sie gegen Eve, die zur Seite ging, Jenny aber an der Schulter festhielt.
»Er wird dich holen, Jenny. Du kannst ihm nicht entkommen. Das ist unmöglich.«
»Wir müssen rennen. So schnell kann er sich nicht bewegen.«
»Stimmt. Nur ist er nicht allein.«
»Was?«
Die Stimme überschlug sich fast vor Panik, als Eve die Antwort gab.
»Er ist nicht allein, verflucht! Ich habe hier noch zwei andere gesehen.«
»Wo?«
»Dreh dich mal nach rechts.«
Das tat Jenny - und hatte das Gefühl, einen Schlag in die Magengrube zu bekommen. Da stand der Zweite. Noch halb in einer offenen Tür, aber ihr zugedreht.
»Und wo ist der Dritte?«
»Im Moment verschwunden. Aber ich schwöre dir, dass ich mich nicht getäuscht habe. Alle drei werden dir den Weg abschneiden. Du oder wir haben
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