170 - Hüte den Speer - Magiure, Margo
Mädchen?“, fragte Tiarnan besorgt von seinem Strohlager.
„Ja, Onkel“, erwiderte sie, ließ aber den Kopf gesenkt. Sie wagte es nicht, dem Grafen in die Augen zu schauen, denn sie befürchtete in seinem Gesicht Abscheu zu sehen, den er für sie empfinden musste. Jetzt erinnerte sie sich wieder an alles. Er hatte sie geküsst, dann war ihr schwarz vor Augen geworden, und sie hatte das Bewusstsein verloren. Was sollte er nur von ihr denken?
„Wie geht es dir?“, fragte Tiarnan, während er sich auf die Ellbogen stützte und zu ihr herüberblickte, als ob er sie sehen könnte.
„Es geht mir gut, Onkel“, antwortete sie und schickte sich an, wieder aufzustehen. „Der Junge … ist er …?“
„Er schläft noch“, erwiderte Marcus. „Ich habe vorhin nach ihm geschaut.“
„Blutet seine Wunde noch?“, fragte Keelin und sah dem Grafen schließlich in die Augen. Sie konnte keinerlei Abscheu in seinem Blick entdecken, aber das hatte vermutlich nur einen Grund. Er besaß gewiss die seltene Gabe, seine Gefühle zu verbergen.
„Nein“, antworte Marcus auf ihre Frage. „Und er hat noch kein Fieber. Was auch immer Ihr ihm verabreicht habt, es ließ ihn tief und fest schlafen.“
„Dem Himmel sei gedankt“, rief Tiarnan erleichtert aus, während Keelin den jungen Edlen mit verstohlenen Blicken musterte.
Sie erinnerte sich, wie er beim Erwachen vor ihr zurückgewichen war, und begann zu ahnen, wie er sich fühlen musste, denn er war gezwungen gewesen, einer Frau Wärme zu spenden, die in seinen Augen sicher nicht ganz richtig im Kopf war. Kein Mann außerhalb ihres Clans war in der Lage, die „Gabe“ zu verstehen, die seit Generationen in der weiblichen Linie weitervererbt wurde.
Keelin wandte sich von Marcus ab und ging zu Adams Bettstatt. Sie wusste, dass Tiarnan darauf aus war zu hören, was sie gesehen hatte, aber die Vision wirkte noch zu stark auf sie ein, und sie war noch nicht im Stande, darüber zu sprechen. Es blieb noch genügend Zeit, ihm alles später zu erzählen, sobald sie die Flut von Eindrücken verarbeitet hatte.
Sie zündete ein Talglicht an und lauschte. Adam atmete regelmäßig. Sie vernahm kein rasselndes Geräusch oder sonstige ungesunde Laute. Seine Stirn war nicht heiß, und er schien tatsächlich kein Fieber zu haben. Dann schlug sie die Decke zurück und löste den Verband. Die Wunde sah unverändert aus.
Während Keelin eine neue Paste aus Frauenmantel anrührte und die verletzte Stelle damit versorgte, hörte sie, wie die Männer draußen im Zeltlager allmählich erwachten. Sie dachte plötzlich an die Verwundeten unter den Rittern, Männer, um deren Verletzungen sie sich ebenfalls kümmern müsste.
Nachdem Marcus sich davon überzeugt hatte, dass Adams Wunde weiterhin gut versorgt wurde, verließ er die Hütte und begab sich zu seinen Getreuen. Er wechselte ein paar Worte mit Sir Edward und ging dann zum Bachlauf hinunter, wo er sich an den Stamm einer alten Weide lehnte.
Er fühlte sich an diesem Morgen etwas angeschlagen. Aber nicht der Mangel an Schlaf hatte ihm zugesetzt, sondern die vielen Stunden, in denen er so nah neben Keelin O’Shea gelegen hatte. Die verlockendste Frau, die ihm je begegnet war. Sie war das einzige weibliche Geschöpf, mit dem er die Nacht verbracht hatte – und die Zeit war so viel reizvoller gewesen als jene Stunden bei einer Hure, in den Jahren, als er in König Henrys Armee auf französischem Boden gekämpft hatte.
5. KAPITEL
Marcus kniete am Ufer des Bachlaufes. Er wusch sich, holte eine kleine, scharfe Klinge aus seiner Ledertasche und rasierte sich, so wie jeden Morgen. Eines war jedoch anders: Er war jetzt Graf von Wrexton. Eldred war tot.
Eine neue Woge des Zorns kam über ihn. Sein Vater war stets so standhaft gewesen, genau wie die Befestigungen der Burg von Wrexton. Eldred und er hatten sich so nahe gestanden wie zwei Freunde, und doch war der verstorbene Graf immer sein Lehrer geblieben. Nachdem Marcus’ Großvater tot war, hatten sie beide Hand angelegt, um Wrexton neu zu gestalten – sowohl die Burg als auch die Ländereien. Ihre Bemühungen hatten wunderbare Erneuerungen hervorgebracht, und Wrexton blühte mehr auf als je zuvor.
Doch die Burg und all ihre Lehen hatten nun den einzig wahren Meister verloren.
Marcus verbarg das Gesicht in den Händen und spürte einen Schmerz, der tief in seiner Seele brannte. Wenn Adam nicht verwundet worden wäre, dachte er, hätte ich nicht so schwer an meiner Trauer zu
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