170 - Hüte den Speer - Magiure, Margo
eine besondere Gabe, so könnte man sagen“, hob der Greis an, „obwohl sie das selbst nicht so recht wahrhaben will.“
„Was für eine Gabe? Sprecht deutlicher, alter Mann!“
„Es ist das Gesicht“, erklärte Tiarnan. „Schon als kleines Mädchen vermochte sie Dinge zu sehen, die anderen verwehrt blieben. In meinem Clan nennen wir diese Fähigkeit das zweite Gesicht. Ich weiß nicht, was man hier in England dazu sagt.“
„Weiter!“, drängte Marcus verblüfft.
„Wie auch immer, Keelin hat machtvolle Eingebungen, die in die Zukunft weisen. Und wenn sie Ga Buidhe an Lamhaigh berührt, wird ihre Gabe so stark, dass niemand jene Kraft ermessen kann, selbst ich nicht.“
„Was ist dieses Ga Buidhe …?“
„ Ga Buidhe an Lamhaigh ist die Heilige Lanze unseres Clans. Vor vielen Jahren – noch bevor Saint Patrick irischen Boden betrat – erhielt ein Urahn der O’Sheas die Lanze von Diarmaid, einer Gefährtin der Sonnengöttin. Aber glaubt nicht, dass es hier nur um heidnische Dinge geht. Selbst Saint Bridget segnete die Lanze, als Cathair Sheaghda noch ein Kind war.“
„Genug von diesen uralten Geschichten, O’Shea“, meinte Marcus verdrießlich, da der Greis nicht zur Sache kam. „Woran leidet Lady Keelin? Wie kann ich ihr helfen?“
„Ihr könnt nichts tun außer sie warm halten. Hört, was ich noch zu sagen habe, damit Ihr begreift, was ihr widerfahren ist.“
„Dann erzählt weiter, aber drückt Euch klarer aus!“
„Keelin hat stets die kommenden Ereignisse vorausgesehen und gewusst, was geschehen wird“, sagte Tiarnan. „Sie ist genau wie ihre Mutter. Sie sieht es, wenn Gefahr droht – was auch immer es sein mag – und kann uns daher rechtzeitig vor allem Unheil bewahren.“
„Wollt Ihr damit sagen, dass Lady Keelin verhext ist?“
„Nein, Junge“, entgegnete Tiarnan empört. „Sie ist keine Hexe! Das Mädchen ist mit dieser Gabe gesegnet!“
Marcus ließ seinen Blick über Keelins leichenblasses Gesicht und ihren leblosen Körper schweifen. Verflucht passt wohl besser zu ihrem Zustand, dachte er, aber er wollte es nicht wahrhaben, dass diese schöne Frau womöglich vom Teufel besessen war.
Und doch hatte sie ihn gewiss verzaubert . Schlagartig wurde ihm bewusst, warum er in der Lage gewesen war, mit Keelin zu sprechen, sie zu berühren und sie sogar zu küssen . Solange er denken konnte, hatte er es kaum geschafft, einer jungen Frau in die Augen zu schauen. Und wenn er sich aus ihrer Gesellschaft hatte zurückziehen wollen, war er stets beinahe über seine eigenen Füße gestolpert.
„Es ist eine seltene Gabe, die zuvor Keelins Mutter besaß, und sie hatte die Gabe von ihrer Mutter geerbt. Seit Generationen wird diese Fähigkeit vererbt.“
Marcus erschien die Erklärung des Alten weit hergeholt. Aber er wusste, dass es seltsame Dinge zwischen Himmel und Erde gab, Dinge, die er selbst noch nicht erlebt hatte. Es mochte wohl angehen, dass es eine alte, magische Lanze gab, die mit einer unerklärlichen Macht behaftet war, einer Macht, die Keelin sich zu Nutze machte.
Er zog sie enger an sich, als ob er sie vor weiterem Unheil bewahren wollte. Sie fühlte sich nun nicht mehr so kalt an, doch ihr Körper zitterte immer noch. Marcus spürte Begierde in sich aufsteigen, während er die bewusstlose Frau in seinen Armen hielt.
War es Hexerei? Oder eine Segnung, wie ihr Onkel es bezeichnet hatte?
Marcus vermochte nichts als Unschuld in Keelins zarten Gesichtszügen zu sehen. Sie wirkte so verwundbar, als er sie unter der Decke sanft in den Armen wiegte.
„Sie muss etwas sehr Bedeutsames gesehen haben“, dachte Tiarnan halblaut vor sich hin.
„Woher wollt Ihr das wissen?“
„Nun … das lässt sich nicht ohne weiteres erklären“, entgegnete der alte Mann. Er rieb sich das Kinn und biss sich nachdenklich auf die Lippe. „In all den Jahren, in denen ich für Keelin verantwortlich bin, habe ich es nur zweimal erlebt, dass sie von einer Vision betäubt wurde, die sie ohne die Hilfe von Ga Buidhe an Lamhaigh gehabt hat.“
„Betäubt?“
„Ja“, erwiderte Tiarnan. „Sie hat die Besinnung verloren, so wie vor wenigen Augenblicken.“
Marcus nickte und hielt die schöne Frau eng umschlungen.
„Es geschah das erste Mal, als sie noch ein kleines Kind war“, fuhr der Greis fort, „und ihr Bruder bei einem Jagdausflug ertrank.“
Der Graf zuckte zusammen. „Was war geschehen?“
Gebannt lauschte er den Worten des alten Tiarnan, der anschaulich die Vorgänge
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