1706 - Lockvogel der Nacht
stehen.
Direkt vor der Mauer wartete sie ab und überlegte. Ein Friedhof konnte sehr wohl das Ziel sein, aber sie fragte sich, ob es wirklich der richtige Ort für sie war.
Was würde sie hinter der Mauer finden? Gräber, eine Leichenhalle? Wer bei dieser Kälte beerdigt wurde, für den war es nicht einfach, ein Grab zu schaufeln.
Sie musste ihr Ziel einfach erreicht haben, denn es gab dieses Band nicht mehr. Etwas schien sich in ihr verändert zu haben zu einem Wissen, das sie vorher nicht gehabt hatte.
Plötzlich war diese Mauer für sie zu einem Sinnbild geworden. Justine wusste selbst nicht, wie sie darauf kam, aber es war so, und das konnte sie auch nicht mehr abschütteln.
Justine Cavallo hatte sich mit ihrer Existenz abgefunden gehabt. Sollte das jetzt vorbei sein? Sollte sie in eine neue Phase eintreten, wenn sie die Mauer überkletterte?
Was wartete auf dem Friedhof auf sie?
Blut. Menschen, in deren Adern es floss. Die sich trotz der Kälte im Freien aufhielten.
Das tat sie auch, und wie immer trug sie ihre enge Lederkleidung. Aber sie gehörte zu den Wesen, die weder Kälte noch Wärme spürten.
Sie schaute an der Mauer entlang bis zur Krone hoch.
Sie hatte keine andere Wahl. Sie musste rüber auf die andere Seite. Der Friedhof lockte. All das, was in den Jahren bisher für sie Bedeutung gehabt hatte, war verflogen, war weggetrieben worden wie von einem Windstoß.
Justine ging einen Schritt zurück. Dann noch einen. Ein letztes Mal schaute sie sich um und stellte zufrieden fest, dass sich niemand in der Nähe aufhielt.
Ein kurzer Anlauf.
Dann der Sprung.
Wer jetzt als Zeuge in der Nähe gestanden hätte, der hätte sehen können, welche Kraft in dieser Gestalt steckte. Mit einem Sprung hatte sie die relativ breite Krone erreicht. Dass die Steine dort leicht angefroren und glatt waren, störte sie nicht. Sie behielt perfekt ihr Gleichgewicht.
Der erste Überblick!
Ja, es war ein Friedhof, auf dessen Mauer sie sich befand. Er breitete sich vor ihr aus und lag eingetaucht in der Dunkelheit der Nacht. Nicht eine Laterne gab Licht ab, aber da der Mond vom wolkenlosen Himmel schien, hatte sie sogar eine relativ gute Sicht, und ihre Augen sahen in der Dunkelheit sowieso besser als die eines normalen Menschen.
Sie blieb auf der Mauerkrone stehen und ließ ihren Blick über das Gelände schweifen. Sie suchte nach irgendwelchen Bewegungen. Sie war nicht gekommen, um sich mit Grabsteinen und froststarren Gewächsen zu vergnügen, hier ging es um etwas ganz Bestimmtes.
Ihre Zunge leckte über die vollen Lippen. Die Gier war noch immer vorhanden. Blut zu trinken, sich zu stärken, satt zu werden, darauf lief es hinaus.
Im Moment sah sie noch nichts. Aber das hatte nichts zu bedeuten. Grundlos war sie nicht hergeführt worden, und plötzlich verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln, denn jetzt hatte sie etwas gewittert.
Auch wenn sie keine Personen entdeckte, war der Friedhof trotzdem nicht leer.
Sie witterte etwas …
Menschen?
Im ersten Moment wollte sie zustimmen und freute sich bereits auf das Blut, aber wenig später begann sie sich zu wundern. Das waren keine Menschen. Sie ging davon aus, nicht allein auf dem Gelände zu sein, aber wer erwartete sie?
Justine war irritiert. Ihre Vorfreude verschwand, auch wenn sie wusste, dass Blut vorhanden war. Ja, das roch sie sehr gut.
Es war trotzdem anders.
An eine Rückkehr dachte sie nicht. Die Cavallo war in ihrer Eigenschaft als Vampirin jemand, die alles, was sie begonnen hatte, auch durchzog. Das würde auch hier nicht anders sein. Viel zu groß waren ihre Gier und die Neugierde.
Ein kurzer Satz, und sie hatte den Boden hinter der Mauer erreicht, wo sie erneut stehen blieb. Es hatte sich nichts verändert. Die Dunkelheit blieb ebenso bestehen wie die Stille.
Wenn sie hoch in das Geäst der Bäume schaute, fiel ihr das Schimmern der Äste und Zweige auf, denn sie waren von einer silbrigen Eisschicht überzogen. Das Gleiche galt auch für die Stämme.
Sie sah die Gräber mit den verschiedenen Steinen. Auch sie sahen anders aus als sonst und schienen unter der Kälte zu leiden. Alles wirkte noch bewegungsloser als sonst. Ein Ort, der die Toten beherbergte und jetzt selbst gestorben zu sein schien.
Sie sprang über die Gräber hinweg. Von der Mauerkrone her hatte sie gesehen, dass kein großer Friedhof vor ihr lag. Er war übersichtlich und deshalb ging sie davon aus, dass es auf dem Gelände auch nur einen Hauptweg gab, und genau den wollte
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