1711 - Der Mond-Mönch
längst aufgehört. Niemand bewegte mehr das Seil, um die Glocke zu schlagen. So blieb die Stille in der Nacht und auch am Tag bestehen.
Der Abt rieb seine Augen. Er wusste, dass er nicht die ganze Nacht über wach bleiben konnte, so stark war er nicht mehr. Irgendwann würde ihn der Schlaf übermannen, und es störte ihn auch nicht, im Sitzen einzuschlafen, auch wenn er nur zwei Schritte bis zu seinem Bett zu gehen brauchte, um sich dort hinzulegen.
Die Zeit verstrich.
Immer wieder nickte er ein und schreckte wieder hoch. Aber irgendwann würde er endgültig wegsacken und fest schlafen. Dann fiel ihm das Kinn auf die Brust, und sein Kopf drehte sich leicht zur rechten Seite.
Manchmal blieb er recht lange in dieser Haltung. Das war nicht die Regel. Normalerweise schreckte er schnell aus diesem Zustand hoch, und das war auch in dieser Nacht so, denn plötzlich war er nicht nur wach, sondern hellwach.
Und voll da!
Er wusste, dass ihn etwas geweckt hatte, auch wenn er nicht sagen konnte, was es genau war. Aber er verspürte keine Müdigkeit mehr, fühlte sich nicht matt und blickte zur Tür hin, die nicht geschlossen war.
In diesem Kloster gab es kein elektrisches Licht. Für Helligkeit sorgten Kerzen. Vier von ihnen brannten auch hier. Sie standen im Raum verteilt in alten schweren Eisenständern.
Zwei Kerzen standen nahe der Tür und leuchteten das offene Rechteck aus.
Der Abt hatte ein Geräusch gehört. Es war nicht in seinem Zimmer aufgeklungen, sondern jenseits der Tür im Flur. Er hätte auch nicht sagen können, was er da gehört hatte, eine menschliche Stimme allerdings war es nicht.
Ein Schleifen?
Vielleicht Schritte?
Kam die Person jetzt endlich, auf die er so sehnsüchtig wartete? Es wäre sein größter Wunsch gewesen, und er spürte das Zittern seiner Hände und die plötzliche Hitze in seinem Innern, die ihm in den Kopf stieg und seine Wangen rötete.
Der Abt wischte sich über die Augen und konzentrierte sich, was ihm nicht leichtfiel. Er musste sich schon bemühen, seine Gedanken unter Kontrolle zu behalten.
Das Licht der beiden Türkerzen beleuchtete nicht nur den Ausschnitt in der Tür. Es fiel auch in den Gang hinein.
Der Abt überlegte, wie er sich verhalten sollte. Sitzen bleiben oder aufstehen und nachschauen?
Da er nicht wusste, was er tun sollte, entschied er sich dafür, sitzen zu bleiben.
Er hatte sich leicht auf dem Stuhl gedreht, sodass sein Blick die offene Tür traf. Vom Flur her drang ein schwacher Luftzug herein. Es war daran zu erkennen, dass sich die beiden Flammen bewegten und anfingen, ein Muster an die Wände und auf dem Fußboden zu zaubern. Schatten und Helligkeit mischten sich miteinander. Es herrschte kein Durchzug, der die Flammen hätte bewegen können. Es musste also einen anderen Grund haben.
Jemand kam, und dieser Jemand befand sich bereits im Flur. Es gab für den Abt keine andere Erklärung. Aber er wollte auch nicht daran glauben, dass sein erwarteter Besuch eingetroffen war. Nein, der hätte sich schon früher bemerkbar gemacht.
Es war der andere, und er war schneller als sein Besuch gewesen. Der Gedanke hatte sich kaum in seinem Kopf festgesetzt, da sah er die Umrisse der Gestalt, die sich nun nicht mehr so vorsichtig auf die Zellentür zuschob. Sie hinterließ jetzt normale Trittgeräusche auf dem Steinboden und geriet bald in den Schein der beiden Kerzen. Sie ging noch einen Schritt vor, hatte dann die Schwelle erreicht und verharrte dort.
Der Abt brauchte nur einen Blick, um erkennen zu können, wer ihn da besuchte. Es war sein Schicksal, das allerdings auch einen anderen Namen trug.
Der Mond-Mönch!
***
Beide Männer bewegten sich nicht. Der eine stand, der andere saß auf seinem Stuhl. Sie schauten sich an, maßen sich mit den Blicken, wobei die Augen des Besuchers wie geschliffener Stein wirkten, denn ein Gefühl zeigte sich darin nicht.
Der Abt hielt den Atem an. Er saugte dabei den Anblick des Mönchs in sich auf. Es war eine große Gestalt, größer jedenfalls als ein normal gewachsener Mensch. Eingehüllt war sein Körper in eine Kutte, die nicht unbedingt dunkel war. Sie zeigte eine rötliche bis rostbraune Farbe, und das lag nicht am Schein der Kerzen.
Der Mönch sagte nichts. Er genoss seinen Auftritt. Eine Kapuze bedeckte seinen Kopf nicht, der völlig kahl war und vom Widerschein der Kerzen getroffen wurde.
Es war ein menschlicher Kopf, obwohl man auch seinen Zweifel daran haben konnte. Das lag an der dünnen Haut, die sich
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