1711 - Der Mond-Mönch
gelebt hat. Wahrscheinlich war es sein Versteck. Er hat sich dem Bösen verschworen. Er war anders als wir.«
»Und weiter? Was hat er mit Rasputins Erben zu tun?«
Nach dieser Frage schaffte Anatol sogar ein leises Lachen, das sich seltsam anhörte. Er wollte seine Linke anheben, um nach Karina zu fassen. Das schaffte er nicht, denn er war für diese Bewegung schon zu schwach.
»Hör genau zu. Er ist ein Wissender. Einer, der die Zusammenhänge kennt.«
»Und auch die Erben Rasputins?«
Der Abt schwieg. Allerdings bewegte er seine Lippen und schien grinsen zu wollen. Er wollte etwas sagen, hatte damit Mühe und hustete trocken. Den Anfall überstand er, konnte wieder sprechen, aber seine Worte drangen jetzt leiser über seine Lippen, sodass sich Karina vorbeugen musste, um ihn überhaupt zu verstehen.
»Ja, du weißt, weshalb du hier bist. Es gibt diese Erben. Mächtige Männer in allen Schichten. Sogar in den Klöstern. Zumindest hier in meinem. Ich habe diese Schlange an meiner Brust genährt, und als ich es merkte, war es zu spät. Ich mache mir schlimme Vorwürfe, aber ich will auch auf deine Frage antworten. Denk nicht nur immer an die Erben Rasputins. Denk auch an ihn.«
»Du meinst ihn persönlich?«
Der Abt musste kämpfen und sich anstrengen, um überhaupt antworten zu können.
»Ja, Karina, ja. Es gibt ihn noch. Ich weiß, dass es ihn gibt. Er ist nicht tot.«
Sie schloss für einen Moment die Augen. »Das habe ich von Wladimir noch nie gehört.«
»Das war damals auch nicht so wichtig, als er sich für einen Monat hier ins Kloster zurückgezogen hatte. Aber jetzt ist es wichtig. Es sind nicht nur die Erben. Er ist es auch selbst. Daran solltest du denken, das darfst du niemals vergessen.«
»Er ist also nicht tot?«
»So sagt man …«
Da Anatol sich ausruhen musste, nutzte Karina die Gelegenheit, um mich anzuschauen. Dabei fragte sie: »Wie sieht es bei dir aus? Hast du was verstanden?«
»Zu wenig.«
Karina warf dem Abt einen knappen Blick zu. Sie stellte fest, dass er Ruhe brauchte, und konnte mir deshalb eine knappe Erklärung geben. Es waren nur Stichworte. Das reichte völlig aus, weil Karina sie in die richtige Reihenfolge gebracht hatte.
Mir schoss zwar nicht das Blut in den Kopf, wärmer wurde mir schon, als ich hörte, dass Rasputin leben sollte. Dieser Mönch, der im Zarenreich seine Zeichen gesetzt hatte. Arzt, Magier und mächtiger Intrigant war er gewesen, bis man ihn umbrachte und seinen Körper in St. Petersburg in die Newa warf.
»Was sagst du dazu?«, fragte ich. »Glaubst du ihm?«
»Warum sollte er lügen?«
Ich hob die Schultern. »Keine Ahnung. Als wahrscheinlich sehe ich es trotzdem nicht an.«
»Denk etwas weiter, John. Ist das Unwahrscheinliche nicht jeden Tag dein Begleiter?«
»So kann man es auch sehen.«
»Eben, und deshalb glaube ich, dass an Anatols Worten etwas Wahres ist.«
»Aber dieser Rasputin ist nicht in das Kloster eingedrungen und hat ihm das Messer in den Leib gestoßen.«
»Nein, das war Sobotin, der Mond-Mönch. Die Schlange, die Anatol an seiner Brust genährt hat. Er ist ein Wissender. Er hat sich nur raffiniert versteckt gehalten. Und jetzt ist er unterwegs. Es gibt hier keine Mönche mehr, abgesehen von Anatol, der irgendwann gemerkt hat, wer hier im Kloster lebte.«
»Dann müssen wir davon ausgehen, dass Sobotin mehr über Rasputin weiß.«
»Das sehe ich als eine Tatsache an.«
Karina wollte etwas sagen, aber sie wurde abgelenkt. Wir hörten erneut das tiefe Stöhnen des Abts. Es klang schlimm. Als läge der Verletzte in den letzten Zügen.
»Moment, John«, flüsterte Karina. »Ich muss mich um ihn kümmern.«
»Tu das.« Ich blieb weiterhin passiv, aber ich hatte etwas gehört oder erfahren, und wenn das alles zutraf, dann kam auf dieses Land und im Besonderen auf Karina Grischin einiges zu.
Im Moment kümmerte sie sich um den Abt. Sie wischte den Schweiß aus seinem Gesicht weg und war dadurch nah an ihm dran. So schaute sie ihm in die Augen und sah, dass sich der Ausdruck darin verändert hatte. Er war schon zuvor nicht klar gewesen, jetzt aber war er dabei, zu brechen. Die Klarheit verschwand allmählich aus seinen Augen, und Karina wusste, dass der Tod bereits unsichtbar an seiner Seite stand. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann er zugriff.
Seine Lippen zitterten. Der Mund öffnete sich spaltbreit, und es erschienen Tropfen einer dunklen Flüssigkeit, die zwischen den Barthaaren verschwanden.
So gut es ging,
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