1720 - Die Nacht der Voodoo-Queen
Reaktion. Obwohl es dem Mann so schlecht ging, dachte er nicht an sich, sondern an seine ihm fremde Besucherin.
»Du musst gehen! Du kannst hier nicht bleiben! Die Hölle ist auf die Erde gekommen, und sie hat sich gezeigt. Ich bin zu ihrem Opfer geworden. Sieh zu, dass du es nicht wirst.«
Marietta hatte die Warnung zwar gehört, kümmerte sich aber nicht darum, denn sie wollte mehr wissen.
»Wer hat das getan? Wer hat dich so zugerichtet? Und wer bist du eigentlich?«
»Ich – ich – wohne hier nicht.«
»Okay. Aber ich habe dich hier gefunden.«
»Stimmt.« Er quälte sich die weiteren Worte ab. »Ich heiße Graham Hill, und das Haus hier gehört meiner Schwester. Sie ist Malerin.«
»Und wo steckt sie jetzt?«
»Ich kann es dir nicht sagen. Sie ist verschwunden. Er hat sie mitgenommen.«
»Wer ist er?«
»Der Mann mit den kalten blauen Augen. Für mich ist er ein lebendiges Stück Hölle, wenn du verstehst …«
»Nein, das verstehe ich nicht. Tut mir leid. Die Hölle ist etwas anderes, glaube ich. Wie kann ein Mensch eine Hölle sein oder nur ein Teil davon?«
»Er – er ist es aber, in ihm steckt das Böse. Das absolut Negative, das so schlimm ist, dass ich es nicht beschreiben kann. Man kann es erleben, aber das wünsche ich keinem. Die Qualen bei vollem Bewusstsein aushalten, das geht nicht.«
»Aber du hast es durchlitten?«
»Ja. Er kannte keine Gnade. Er sieht sich als Vertreter des Teufels. Ich habe nur meine Schwester besuchen wollen und sie nicht retten können …«
»Ja, das weiß ich inzwischen.« Die Voodoo-Queen richtete sich wieder auf und ließ ihre Blicke durch das Atelier gleiten. Noch immer war sie völlig überrascht. Sie hätte nie damit gerechnet, auf so etwas zu treffen, aber sie erinnerte sich an die Warnungen, die sie aus ihrer Geisterwelt erreicht hatten, und sie stellte sich jetzt die Frage, was ihre Rolle in diesem satanischen Spiel war.
Sie könnte das Haus verlassen, sich in ihr Wohnmobil setzen und verschwinden. Einfach das Grauen hinter sich lassen. Das war eine Möglichkeit.
Aber war es auch eine, mit der sie sich abfinden konnte, ohne ihr Gewissen zu belasten?
Sie dachte hin und her, schaute mal auf den Veränderten, dann wieder durch das Fenster in den dunklen Garten, bevor sie sich einen Ruck gab.
Ja, sie hatte sich entschlossen. Sie würde bleiben. Sie wollte wissen, ob all das zutraf, was ihr Graham Hill gesagt hatte.
Sie war jemand, die das Böse ebenso kannte wie das Gute. Sie kannte die positiven und die negativen Seiten der Geister- oder Anderswelt. Sie sah sich als eine Schamanin an, die es geschafft hatte, Grenzen zu überwinden, und das wollte sie auch in diesem Fall. Auf der einen Seite fand sie die Vorgänge spannend, auf der anderen jedoch war Vorsicht geboten, denn sie wusste sehr gut, welche Macht die dunkle Seite besaß.
Die Stimme des Veränderten riss sie aus den Gedanken.
»Du hast mich gesehen. Du weißt, was hier los ist. Und deshalb möchte ich dir noch mal den Rat geben, so schnell wie möglich zu fliehen. Alles andere kannst du vergessen.«
Marietta nickte. »Danke, Graham, das habe ich verstanden. Das ist schon okay.«
»Und weiter?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht auf deinen Vorschlag eingehen. Ich bleibe hier im Ort, denn ich habe mir vorgenommen, deine Schwester zu suchen und auch zu finden. Damit musst du dich abfinden.«
»Nein«, keuchte Graham, »das darfst du dir nicht antun! Es sei denn, du bist lebensmüde.«
Jetzt musste Marietta zum ersten Mal lachen. »Sehe ich denn so lebensmüde aus?«
»Das – das – kann ich nicht beurteilen. Es ist schon möglich, doch ich weiß nicht …«
»Du hast dich geirrt. Ich bin nicht lebensmüde. Ich weiß genau, was ich will. Nicht jeder Mensch fürchtet sich vor der Hölle.«
»Aber du kennst ihn nicht!«, sagte Graham in einem Jammerton. »Du kannst ihn nicht kennen.«
»Das ist mir auch klar, mein Freund. Nur möchte ich ihn gern kennenlernen.«
»Dann willst du dich selbst umbringen?«
»Nein, das sicherlich nicht. Es bleibt dabei. Ich weiß genau, was ich will, und das ziehe ich auch durch.«
Die Augen des Veränderten weiteten sich. Wie konnte eine Frau so etwas behaupten? Er wusste sich keinen Rat, und für ihn gab es nur ein Kopfschütteln, obwohl sein Gesicht so verdreht war und er einen beißenden Schmerz verspürte.
Eine Frage drängte sich ihm auf, und er stellte sie mit leiser Stimme. »Wer bist du, dass du so etwas behaupten
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