1721 - Utiekks Gesandte
wäre sie für die normale Welt für immer verloren.
Sie war jetzt über dreieinhalb Jahre alt. Semiodd kümmerte sich um sie, so gut er konnte. Es fehlte ihr an nichts, auch nicht an Wertschätzung. Seit Wochen schon hatte Semiodd sie nicht mehr geschlagen.
Allerdings mußte sie zugeben, daß er längst keinen Grund mehr dafür hatte, denn sie war viel zu langsam geworden. Ouidane hatte sogar Schwierigkeiten, aus eigener Faust den Gipfel Shergens des Mächtigen zu besteigen; wenn sie morgens loszog, war sie manchmal am Abend nicht dort.
So wie an diesem Tag, als sie Shergen zur Hälfte bezwungen hatte und aus den Wolken einen beschädigten Phoor-Jäger tauchen sah: Keine hundert Meter neben ihrem Standort tat sich ein Luk in den Felsen auf - und verschluckte das kleine Raumfahrzeug. Ouidane lief ins Innere der Schule zurück, so schnell sie konnte. Sie brauchte eine Stunde dafür.
An diesem Tag stand sie zum erstenmal einem anderen Immunen gegenüber.
*
Semiodd fing sie ab, bevor sie den Standort des Phoor-Jägers erreichen konnte. Seine Bewegungen und Worte wirkten sehr gekünstelt.
Er gab sich Mühe, seine Worte lang zu dehnen. Und den Schritten merkte man deutlich an, daß sie willentlich verlangsamt waren.
Ohne daß er ein Wort zu sagen brauchte, wußte sie, daß es nun Zeit war. Der Lehrer führte sie in den Hangar. Oftmals hatte sie sich hier herumgetrieben, gerade in ihrer Anfangszeit in der Schule. Das offenstehende Schott in einer der Wände hatte sie niemals bemerkt - vermutlich war es getarnt in die Wand eingelassen. Es führte in einen langen, rötlichdunkel beleuchteten Korridor.
„Was ist dahinter?" fragte sie mißtrauisch.
„Eine neue Welt für dich, meine Kleine. Dort leben die Immunen."
Gemeinsam mit dem Lehrer drang sie in den Korridor vor; denn ein Vordringen war es in der Tat, angesichts dieser versteckten Zauberwelt.
In der Mitte des Ganges standen zwei Laufbänder zur Verfügung, für jede Richtung eines. Keines davon bewegte sich.
Semiodd zog sie auf das linke Band, worauf es sich in Bewegung setzte und seine Last zuerst langsam, dann immer schneller zum Gangende hin transportierte. Die Bewegung geriet zu keiner Zeit bedrohlich schnell. Im übrigen Teil der Schule war das ganz anderes gewesen; dort hatte Ouidane aus Prinzip kein Laufband mehr betreten. Auge und Geist waren längst außerstande, Geschwindigkeiten dieser Art zu verarbeiten.
Die Geschwindigkeit der Normalen. Aber ich bin ja immun - wogegen?
Im dunklen Teil der Schule schien jedes sichtbare Detail Ouidane angepaßt. Sie fühlte sich regelrecht wohl dort. Zum ersten Mal seit langer Zeit schmerzte die Beleuchtung nicht in ihren Augen. Semiodd hatte dagegen eine das Restlicht verstärkende Brille aufgesetzt.
„Was muß man tun, damit das Band stoppt?"
„Hebe einen Fuß und setze ihn neben das Band, berühre aber den Boden nicht. Sonst wirst du von den Beinen gerissen. Oder du sagst einfach deutlich das Wort >Halt<. Beides funktioniert."
Ouidane entschied sich dafür, den Fuß zu heben. Das Band wurde langsamer und brachte seine Passagiere an der nächsten Kreuzung zum Stillstand.
Ein dumpfes, langgezogenes Geräusch ließ sie herumfahren. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie begriff, daß es sich um eine barrayische Stimme gehandelt hatte.
Von der rechten Seite näherte sich eine hochgewachsene, in den Schultern gebeugte Gestalt, ebenfalls auf dem Laufband. Ihre Lederhaut hatte sich vollständig rötlich verfärbt, nicht nur an bestimmten Partien wie in Ouidanes Fall. Die Gestalt war männlichen Geschlechts, nicht allzu alt, nicht besonders kräftig. Ihre Bewegungen wirkten noch mehr gehemmt als die der jungen Immunen, obwohl sie das nicht für möglich gehalten hätte.
Im Alter von drei Jahren fängt es an, es ist völlig normal...
Vieles deutete darauf hin, daß es allen Immunen so ging wie ihr. Semiodd hatte es ja behauptet. Der Fremde besaß noch weniger Antriebsenergie als sie; jede Bewegung schien ihm schwerzufallen.
Sah so ihre Zukunft aus? Der Endpunkt einer Entwicklung?
Die männliche Gestalt lupfte wie in Zeitlupe einen Fuß um wenige Zentimeter. Präzise an der Kreuzung kam das Band zum Stillstand. Man durfte diesen Fremden nicht unterschätzen; er hatte die Entfernung sehr exakt berechnet.
„Ich grüße dich, Mineseed", formulierte Semiodd so langsam, daß Ouidane genau hinhören mußte, um den Sinn der Laute zu verstehen.
„Bitte warte einen Augenblick. Ich möchte dir Ouidane
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