1722 - Flucht in die Finsternis
zunichte machten. Eiskalt. Sie ließen sich nicht aufhalten. Das war für sie grauenhaft, das durfte nicht sein, und doch hatten ihre Feinde zugeschlagen. Warum sie ihre Spur entdeckt hatten, war ihr unbekannt, und sie wollte auch nicht mehr danach fragen. Die Tarnung war eben aufgeflogen und fertig.
Jetzt wollte sie ihr Versteck erreichen. Es gab zwei. Das eine lag außerhalb der Stadt und in einer ländlichen Umgebung. Sie aber hatte sich für das andere entschieden, das nicht mal weit vom Hyde Park entfernt lag. Nördlich davon. In Paddington. Zwischen dem Bahnhof und dem Paddington Basin, einem Wasser-Reservoir, lag das große St. Marys Hospital. Dort wollte sie sich nicht verstecken, aber sie kannte sich da besonders gut aus, denn da war sie aufgewachsen und hatte in der Nähe gespielt.
Damals war die Kapelle, die zum Hospital gehörte, genutzt worden. Später nicht mehr, da hatte man sie in das Hospital integriert, den alten Bau aber nicht abgerissen. So stand er noch heute, war von Bäumen geschützt und diente als Lager für irgendwelchen Müll und Gegenstände, die aus dem Krankenhaus geschafft worden waren, um sie an diesem Ort so lange aufzubewahren, bis sie abtransportiert werden konnten. Das geschah zweimal im Jahr. Momentan war die Kapelle zur Hälfte gefüllt.
Ob man sie verfolgte, sah sie nicht. Olivia ging aber davon aus, denn nach dem Verlassen des Geländes, auf dem sie ihren Wagen geparkt hatte, war ihr schon das Scheinwerferpaar aufgefallen, und sie wusste, dass dieser Sinclair in dem Fahrzeug saß, das fast neben ihrem Fiat geparkt hatte.
Flucht in die Finsternis!
Für sie war das nicht nur ein Synonym, sie musste die Dunkelheit auch nutzen. Sie war für sie wichtig, denn sie besaß längst nicht die Kraft wie die blonde Justine, der auch das Licht des Tages nichts ausmachte.
Sie fuhr weiter. Und immer so zügig, wie es der Verkehr zuließ. Sie hatte zudem damit gerechnet, von Sinclair und seinem Freund gestoppt zu werden, doch das war nicht geschehen. Es hatten sie zwar einige Autos überholt, ein Rover, in dem die beiden hätten sitzen können, befand sich nicht darunter. Sie wusste nicht, ob sie darüber froh sein sollte oder nicht, sie musste es einfach darauf ankommen lassen.
Der Hyde Park lag bereits hinter ihr. Nördlich davon verteilte sich ein Zickzack-Muster aus Straßen. Da sie hier aufgewachsen war, fand sie sich zurecht und wusste, wie sie ihr Ziel am schnellsten erreichte.
Den Bahnhof sah sie bereits, weil er erleuchtet war. Rechts davon lag das Krankenhaus, auch das war nicht zu übersehen. Es breitete sich auf einem recht großen Gelände aus, das mit einem alten Baumbestand bewachsen war. Und dort stand auch die Kapelle. Olivia war sicher, dass sie ihren Fluchtpunkt unangefochten erreichen würde, nahm dann eine der Zufahrten zum Krankenhaus, passierte den Parkplatz und fuhr dorthin, wo es dunkler war.
Unter ihr lag jetzt ein schmaler Weg, der nie gepflegt wurde. Pflanzen oder Unkraut hatten die Teerdecke von unten her durchbrochen, sodass dieser Weg mehr einer Hindernisstrecke glich, und so manches Mal tanzte der Fiat darüber hinweg.
Der Weg endete dort, wo die Kapelle stand. Nur eben geschützt von Bäumen, die ein frisches Dach aus Blättern trugen. In eine Lücke zwischen zwei Stämmen lenkte die Blutsaugerin ihren Fiat und ließ ihn dort stehen.
Den Rest wollte sie zu Fuß gehen. Es waren auch nur wenige Meter. Sie ließ sich allerdings noch Zeit, denn jetzt war es wichtig, Ausschau nach den Verfolgern zu halten. Sie blickte den Weg zurück, suchte nach den Lichtern von Scheinwerfern, aber es war nichts zu sehen. Sie hörte auch keine Stimmen oder sah irgendwelche Schatten durch die Dunkelheit huschen. Sollte sie Glück gehabt haben?
Olivia hoffte es. Sie zog sich zurück und umging die Kapelle. Auch da war alles in Ordnung. Erst jetzt machte sie sich daran, den nicht sehr großen Bau zu betreten. Die alte Tür gab es noch. Und sie war nie abgeschlossen. Bisher waren noch keine Diebe erschienen, um das Zeug zu stehlen, das in der Kapelle abgestellt worden war. Damit hätten Diebe auch nicht viel anfangen können.
Sie zerrte die Tür auf. Dabei kratzte sie über den Boden hinweg, und als die Öffnung breit genug war, um hindurchzuschlüpfen, huschte sie in den dunklen Raum, der tatsächlich zur Hälfte voll gestellt war.
Kisten und Kartons. Aber auch auseinandergenommene alte Metallbetten stapelten sich an der Wand. In einer Ecke lagen mit weichen Materialien
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