1729 - Totenliebe
gab ihr sofort die Antwort und deutete nach unten auf die Figur.
Das wollte sie nicht akzeptieren und sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein, das kannst du so nicht sagen. Auf keinen Fall. Das ist nur sein Leib, der vermoderte. Er ist in Wirklichkeit nicht tot, John Sinclair. Er kann nicht sterben. Er will nicht sterben, er ist nur einen anderen Weg gegangen, das hat er mir gesagt. Leider bin ich allein zu schwach, ihn zu finden, aber du kannst es schaffen. Du bist jemand, der sich auskennt, das weiß ich. Das habe ich gehört. Führe uns beide zusammen.«
Man hatte ja schon viel von mir verlangt. So etwas allerdings noch nie.
»Ich verstehe dich ja, aber es ist mir nicht möglich, dich mit einem Toten zusammenzuführen. Das geht nicht. Tote und Lebende passen nicht zusammen.«
Die Antwort gefiel ihr nicht. Sie hob die Schultern an und ballte die Hände zu Fäusten. »Aber er ist nicht tot, wenn ich es dir sage. Er lebt weiter. Einer wie er kann nicht sterben. Er sucht mich, und ich suche ihn. Wir haben uns fast gefunden. Es fehlt nur noch das letzte Glied in der Kette, und die Lücke sollst du schließen, John Sinclair.«
Ich musste ihr eine Antwort geben. Ich wollte sie dabei auch nicht vor den Kopf stoßen, schaute noch mal auf das Grab und sagte: »Ich werde es versuchen.«
»Danke, John, ich weiß, dass du ein ehrlicher Mensch bist. Sonst hätte ich dich nicht gesucht.«
»Okay, und nun solltest du warten, bis ich zu einem Ergebnis gelangt bin. Ich werde versuchen, einiges über ihn herauszufinden. Sollte ich das schaffen, sehen wir weiter.«
»Damit ist mir schon geholfen.«
»Super. Aber jetzt kommen wir mal zu den einfachen Dingen des Lebens. Wie sieht dein Weg jetzt aus? Ich meine, du lebst doch nicht auf dem Friedhof.«
»Ja, das stimmt.«
»Hast du mir nicht gesagt, dass du eine Nonne bist und…«
»Nicht ganz. Ich bin Novizin, noch in der Probezeit.«
»Gut. Aber du lebst mit den Ordensfrauen zusammen?«
»Das schon.«
»Und wo ist das Kloster oder das Haus?«
Die Antwort hätte sie mir eigentlich geben sollen, aber dazu kam sie nicht mehr. Sie hob den rechten Arm an und stand plötzlich starr. »Hörst du nichts?«
»Was soll ich denn hören?«
»Die bösen Männer kommen.«
»Ach ja? Welche Männer?«
»Sie glauben nicht an meine Liebe. Sie haben mich gefunden. Sie wollen mich holen.«
»Okay, das sagst du. Ich sehe keine Männer, und auch keine bösen.«
»Aber ich weiß, dass sie da sind. Ich rieche sie. Und ich kann sie hören. Du musst dich sensibilisieren. Sie wollen nicht, dass wir zusammenkommen. Aber das ist jetzt nicht mehr so schlimm. Du weißt schließlich Bescheid, John.«
»Ja, das weiß ich. Und ich denke auch, dass ich dich zum Kloster begleite und…«
Im nächsten Augenblick verschlug es mir die Sprache, denn Elisas Verhalten änderte sich schlagartig. Ich kam nicht mehr dazu, etwas zu unternehmen oder zu verändern. Sie huschte so schnell weg, als würde sie vor dem Leibhaftigen flüchten.
Bevor ich meine Überraschung überwunden hatte, war sie schon nicht mehr zu sehen.
Aber so leicht gab ich nicht auf. Elisas Verhalten und ihre Erklärungen hatten mich neugierig gemacht. Dahinter musste mehr stecken. Derartige Dinge saugte man sich nicht einfach aus den Fingern. Irgendwo gab es einen Kern der Wahrheit, und den musste ich finden. Deshalb war ich so erpicht darauf, sie wieder aufzuspüren. Zu sehen war sie nicht. Kein Wunder, denn die Vegetation auf dem Friedhof war zu dicht. Da gab es zahlreiche Möglichkeiten für sie, sich zu verstecken.
Ich wusste, in welche Richtung sie gelaufen war, und die schlug ich ein. Ich wollte ihr zu erkennen geben, dass ich die Verfolgung aufgenommen hatte, und deshalb rief ich laut ihren Namen.
Ich erhielt auch eine Antwort. Aber nicht von Elisa. Zuerst dachte ich an das Echo meiner eigenen Stimme, weil mir ein Mann die Antwort gab.
Sekunden später – ich war schon unterwegs – blieb ich abrupt stehen. Das war nicht das Echo meiner Stimme gewesen. Ich hatte eine andere gehört.
Plötzlich kamen mir die Worte der Novizin wieder ins Gedächtnis. Sie hatte von irgendwelchen Männern gesprochen, die auf sie Jagd machten. So richtig ernst hatte ich das nicht genommen, doch jetzt hatte ich eine fremde Stimme gehört und sah die Dinge aus einem anderen Blickwinkel.
Wir waren nicht mehr allein auf dem Friedhof, und diese anderen Typen zählten nicht zu Elisas Freunden. Es waren Verfolger, und das taten sie sicher nicht
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