1784 - Geisterauge
Mayfair zu verlassen.
Alles war hier anders. Es gab eine sehr dichte Bebauung, aber man hatte nicht den Eindruck, keine Luft mehr zu bekommen. Es lag auch an der Bepflanzung im Innenhof. Da spendeten Bäume Schatten, und dort hielten sich dann bei warmem Wetter die in der Nähe wohnenden Mieter auf. Es war ein kleines Paradies.
Sarah Lane schaute immer wieder mal in den Hof hinab. Ab und zu sah sie den einen oder anderen Nachbarn dort. Auch sie wurde gesehen, man winkte ihr zu, sie winkte auch mal zurück, aber sie ging nicht nach unten, sondern blieb auf dem Balkon.
So locker, wie sie sich gab, war sie in Wirklichkeit nicht. Sie spürte des Öfteren den kalten Hauch, der an ihrem Rücken nach unten rann und immer dann erfolgte, wenn sie daran dachte, was ihr in der alten Turnhalle widerfahren war.
Sarah wollte nichts mehr davon wissen.
Und deshalb versuchte sie, alles zu unterdrücken, was sie gedanklich auch nur daran erinnerte. Was sie da gesehen und gehört hatte, war ein einmaliges Erlebnis gewesen, und das sollte es auch bleiben.
Oder nicht?
Plötzlich war die Stimme wieder da.
»Hi, Sarah!«
Das junge Mädchen schrie auf. Es kam ihr vor, als würde etwas Böses durch ihren Körper huschen, das sie erzittern ließ.
Automatisch schaute sie in die Höhe, aber da war nichts zu sehen. Nur der Himmel über ihr, der allmählich eingraute.
Hatte sie sich den Ruf nur eingebildet? So richtig konnte sie daran nicht glauben. Sie wollte es nicht. Nein, so etwas bildete man sich nicht ein. Sie hatte diesen Ruf vernommen.
Und jetzt?
Erneut drehte sie den Kopf und schaute zurück ins Wohnzimmer, doch auch jetzt war nichts zu sehen. Kein Gesicht mit Mund und auch kein Auge zeichnete sich an der Decke ab. Es blieb alles so, wie es war.
Sie wartete. Diesmal voller Ungeduld, und auch das schwache Zittern blieb. Ihr Name war gerufen worden, und jetzt wollte sie wissen, wie es weiterging.
Sarah Lane stand auf. Das geschah nicht ruckartig, sondern recht langsam. Und wieder hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden, ohne selbst jemanden zu sehen.
Sie blieb stehen. Dachte nach. Wohin sollte sie schauen? In die Wohnung oder ins Freie?
»Ich bin wieder da!«
Ja, das war die Stimme. Erneut zuckte Sarah Lane zusammen und fing stärker an zu zittern, obwohl sie das nicht wollte. Plötzlich überkam sie die blanke Angst. Schweiß rann ihr aus den Poren. Sehr schnell fühlte sie sich verschwitzt, und als sie in das Zimmer hineinsah, da stand für sie fest, von wo aus sie gerufen worden war.
Eine Stimme hörte sie nicht mehr.
Dafür sah sie etwas.
Es war das Auge!
***
Diesmal drehte Sarah nicht durch. Sie hatte mit der Veränderung gerechnet. Sie spürte plötzlich den Druck im Magen, sie schrie nicht, sie drehte nicht durch, sie riss sich für ihre Verhältnisse stark zusammen.
Das Auge blieb im Wohnzimmer. Es schwebte über dem großen Tisch. Es schaute nach vorn und zugleich nach unten. So behielt es Sarah unter Kontrolle.
»Komm her...«
Sie ging und wunderte sich dabei über sich selbst. Es machte ihr nichts aus, sich in Bewegung zu setzen und in den Wohnraum zu gehen, wo sich das Auge befand, das sie kontrollieren wollte.
Direkt unter dem Auge blieb sie stehen. Es kostete sie nicht mal eine große Überwindung, denn es kam ihr beinahe so vor, als hätte sie sich an diesen Anblick gewöhnt.
Es begann die Zeit des Schweigens. Keiner tat etwas. Es gab keine Frage von Sarahs Seite aus, aber auch keine Bemerkung durch das Auge. Es war nach wie vor vorhanden und blieb der heimliche Beobachter.
Wie lange Sarah da gestanden und gewartet hatte, das wusste sie nicht. Es konnten Minuten gewesen sein, bis sie sich aufraffte und sich wieder bewegte. Sie sagte nichts, sie nahm nicht mal einen Kontakt mit dem Auge auf. Sie hatte sich zu einem Experiment entschlossen und ging weg.
Ihr Ziel war nicht der Balkon, sondern die Zimmertür, die sie aufzog und den Flur betrat. Es fiel ihr schwer, die Beherrschung zu bewahren und nicht nach oben zu schauen. Es war auch nicht einfach für sie, langsam zu gehen, aber sie zog es durch, bis sie ihr Zimmer erreicht hatte.
Noch in der Gehbewegung öffnete sie die Tür und betrat ihr eigenes Zimmer. Noch war es nicht ganz dunkel geworden. Da floss noch graues Licht in den Raum. Die Deckenlampe brauchte sie nicht einzuschalten. Sie fand sich auch so zurecht. An der Glotze musste sie vorbei bis zum Fenster, vor dem sie sich umdrehte. Sie lehnte sich dabei gegen die vordere Kante der
Weitere Kostenlose Bücher