1795 - Der Beißer
ihm leider noch nicht gelungen. Es gab zwar den einen oder anderen Fortschritt, aber der Rollstuhl blieb ihm nicht erspart, und daran hatte er zu knacken.
Und doch gab er nicht auf. Er lebte sein Leben weiter, wenn auch etwas eingeschränkt. Des Öfteren verließ er die Klinik und ließ sich zu seinem ehemaligen Arbeitsplatz bringen. Was das genau war, das wusste der Pfleger nicht. Er hatte mal etwas von einem Geheimdienst gehört, das war aber auch alles.
Für ihn war es nicht wichtig, denn es kam ihm auf den Menschen an, und der war top.
An diesem Tag war der Patient schon recht früh abgeholt worden. Wladimir Golenkow wusste nicht, wie lange er wegbleiben würde. Es konnten unter Umständen zwei, drei Tage werden, weil eine große Aufgabe auf ihn wartete.
Die Männer, die ihn abholten, fuhren einen Spezialwagen, in den der Rollstuhl geschoben werden konnte. Dem Vorgang schaute Schukow vom Fenster aus zu. Danach hatte er sich hingelegt, um für die Nachtschicht fit zu sein.
Er hatte hier eine Etage übernommen. Wach bleiben musste nur er, andere Mitarbeiter befanden sich in Bereitschaft. Sollte etwas passieren, würden sie schnell zur Stelle sein.
Der Sommer war vorbei. Aber auch der Herbst ließ sich Zeit, um in Moskau einzufallen. Noch war es warm und auch die Stürme hielten sich in Grenzen. Die Temperaturen luden zu Spaziergängen ein oder zu kleinen Ausflugsfahrten.
Schukow hatte das alles hinter sich. Jetzt ging es ihm darum, den Dienst gut über die Runden zu bringen. Am frühen Abend hatte er die wenigen Mitarbeiter zu einer Besprechung zusammengerufen. Sie fand in einem kleinen Raum statt, der ansonsten als Pausenzimmer diente.
Schukow sagte nicht viel. Das musste er auch nicht, denn seine Leute wussten genau, worauf es ankam.
»Noch Fragen?«, erkundigte er sich zum Schluss. Das war stets sein Standardsatz.
Jemand meldete sich. »Eine noch.«
»Raus damit.«
»Stimmt es, dass der Patient Golenkow nicht anwesend ist?«
»Ja, das ist so.« Schukow hob die Schultern. »Ich weiß auch nicht, wann er zurückkehren wird.«
»Ist wohl ein geheimnisvoller Mensch.«
Schukow winkte ab. »Ich weiß es nicht. Ich habe ihn als sehr nett und kooperativ erlebt. Dass er noch gebraucht wird, ist ja kein Fehler – oder?«
»Bestimmt nicht.«
»Dann ist ja alles klar.«
Nach diesem Satz waren die Mitarbeiter entlassen. Ihr Chef blieb allein zurück. Er wollte sich noch einen Kaffee kochen. Während das Wasser in den Filter lief, warf er einen Blick in den schmalen Spiegel, der an der Wand hing.
Er sah sich. Und er sah ein Gesicht, das die Frische der jungen Jahre längst verloren hatte. Unter den Augen zeigten sich Ringe. Es hatten sich auch tiefe Falten in seine Haut gegraben und das dunkelblonde Haar fing auch allmählich an, grau zu werden.
Er fuhr sich durchs Haar und dachte daran, dass es mal wieder geschnitten werden musste. Aber die Zeit, zum Friseur zu gehen, die hatte er nicht.
Der Kaffee war fertig. Er trank die ersten Schlucke, war zufrieden und dachte darüber nach, wie er den Abend und die Nacht gestalten würde. Er musste nicht immer durchgehend wach bleiben. Er konnte sich auch mal auf das Klappbett legen, das in seinem Büro stand, um für eine halbe Stunde die Augen zu schließen. Es kam immer darauf an, wie ruhig die Nacht blieb. Hin und wieder gab es Probleme mit Patienten, wenn denen wieder klar wurde, was mit ihnen passiert war. Dann konnten sie sich nicht mehr beherrschen. Da kam es dann über sie und sie mussten beruhigt werden. Aber das passierte in der Regel nur bei Vollmond, und der war inzwischen vorbei.
Er trank den Kaffee und überlegte, ob er seine Freundin anrufen sollte. Sie hatte auch Nachtschicht, arbeitete aber in einer Taxi-Zentrale, und von einer ruhigen Schicht konnte bei ihr niemals die Rede sein. Da gab es immer Stress.
Schukow beschloss, den Anruf zu verschieben. Erst nach Mitternacht wollte er mit seiner Freundin sprechen. Da hatte auch sie mehr Zeit. Der September gehörte zwar nicht unbedingt zu den dunklen Monaten, aber so lange hell wie im Sommer blieb es nicht. Es wurde recht früh dunkel, und im Park, der die Klinik umgab, gingen die Laternen an und wurden zu Lichtspendern.
Schukow stand am Fenster und schaute in den Park. Er hielt die Tasse in der rechten Hand und trank den Kaffee in kleinen Schlucken. Seine Gedanken wanderten. Er überlegte, wie er die Zeit am besten hinter sich bringen konnte. In die Glotze schauen, Radio hören oder etwas lesen. Da
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