18 - Orangen und Datteln
Ich kannte die Gegend, in welcher der Felsen lag; wir konnten uns also nicht verirren.
Da wir beide uns bei ihm befanden, zeigte der Parsi ein getrostes Gesicht; ja, er äußerte sich sogar wieder einmal:
„Du hast doch keine Sorge, Sihdi? Ihr habt nichts zu fürchten, denn ich habe meine beiden Amuletts bei mir, wir befinden uns im Nûr esch Schems und im Nûr el Hilal; das Licht der Sonne und des Halbmondes wird uns beschützen.“
Ich hatte mich noch nicht danach erkundigt; jetzt aber sprach ich die Frage aus:
„Wo hast du denn die beiden Talismane her?“
„Du weißt“, antwortete er, „daß zwischen Bagdad und Basra sieben türkische und zwei englische Dampfer hin- und herfahren. Auf dem einen englischen dient ein Nauti (Matrose), den ich sehr gut kenne. Er hat immer wundertätige Amulettschriften bei sich, aus denen er Talismane macht, um sie zu verkaufen. Ich nahm zwei von ihm, um ganz sicher zu gehen, einen Talisman für Parsen und einen für Mohammedaner. Du hast erfahren, daß beide uns schon errettet haben.“
„Das glaubst du, aber ich nicht. Es gibt keinen Talisman. Kann ich sie nicht einmal sehen?“
„Ich weiß nicht, ob ich sie dir zeigen darf; aber beschreiben will ich sie dir. Auf dem Parsitalisman ist Zerduscht, der Stifter unserer Religion, abgebildet, als neugeborenes Kind, wie schon da die frommen Nachbarn kommen, um ihn anzubeten. Dabei ist eine Schrift, welche niemand lesen kann. Und auf dem moslemischen Talisman ist das kleine Kind Mohammed abgebildet, wie es von seiner Mutter Amina angebetet wird. Auch dabei ist eine Schrift, welche kein Mensch versteht. Ist dir das genug?“
„Nein, nun nicht, denn ich glaube, du bist von einem Schwindler betrogen worden.“
„Warum?“
„Weißt du nicht, daß Mohammed verboten hat, Bilder zu machen? Und nun soll auf einem moslemischen Talisman gar das seinige und dasjenige seiner Mutter sein? Das ist Betrug! Ziehe die Amulette einmal heraus!“
Ich mußte ihn wiederholt auffordern, ehe er mir den Willen tat. Er zog unter seiner Kleidung an zwei Schnüren zwei weiße Papierpäckchen hervor. Auf das eine war eine Sonne und auf das andere ein Halbmond wie von Kinderhand mit Tinte gezeichnet. Ich öffnete sie. Was enthielten sie? Zu meinem Erstaunen zwei Illustrationen zu Gedichten aus einer englischen Zeitschrift! Auf dem ‚mohammedanischen‘ Talisman befand sich die Abbildung der Gottesmutter mit dem Jesuskind. Der parsische Talisman bestand aus einem Vollbild, Christmas, zur Seite ein Weihnachtsgedicht. Diese Bilder stammten zweifelsohne aus der Heimat des englischen Matrosen, der sie entweder zum Scherz oder aus Gewinnlust als Amuletts verwertet hatte.
„Nicht wahr, Sihdi, es ist kein Betrug?“ erkundigte sich der Parsi.
„Es ist einer, und doch ist der Inhalt dieser fremden Schrift ein Talisman im Leben und im Sterben. Hier ist von keinem Nûr esch Schems und von keinem Nûr el Hilal, von keinem Sonnen- oder Halbmondlicht die Rede, sondern von dem wahren Nûr es Semâ, von dem Himmelslicht, welches einst über Bethlehem aufgegangen ist und noch heut die ganze Welt erleuchtet. Hier nimm die Bilder und betrachte sie genau! Ich werde sie dir erklären und zu dir von diesem Nûr es Semâ, diesem Himmelslicht, sprechen. Morgen feiern wir ja Weihnacht, den Tag, an welchem es aufgegangen ist.“
Und nun endlich begann ich mit ihm über meinen Glauben zu sprechen, stundenlang, indem wir immer weiter ritten. Er hörte mir andächtig zu und unterbrach mich mit hundert Fragen, welche bewiesen, daß meine Worte Wurzel in seinem Herzen faßten. Da wurde es Abend, und wir mußten lagern.
Der Himmel stand voller Sterne, und im Inneren meiner beiden Zuhörer gingen auch Sterne auf, echte Himmelslichter. Wir wachten und sprachen bis um Mitternacht. Als ich mich dann zum Schlaf niederlegte, sagte der Parsi: „Sihdi, dein Glaube ist voller Liebe, so einfach und doch so wunderbar! Ja, wer ihn im Herzen trägt, der braucht kein Amulett und keinen Talisman, denn die ewige Güte und Liebe wacht stets über ihm. Ich bin betrogen worden, dennoch aber werde ich mir diese Blätter bis ans Ende meines Lebens aufbewahren, denn sie haben mich durch dich zum wirklichen Nûr es Semâ, zum wahren Himmelslicht geführt!“
Halef sagte nichts; er drückte mir still die Hand; ich verstand ihn gar wohl. Dann schliefen wir ein. Am anderen Morgen ging es weiter. Da erhob sich dann bald der Felsen Wahsija aus der Ebene; an seinem Fuß lagen die Zelte der Anezeh,
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