181 - Der ewige Turm
anderen Seite des Steins Frauen. Sie klangen leise und klagend, und Rulfan begriff, dass die als Männer getarnten Frauen der Moscherunen die junge Sayona am Schutzpfandstein befestigt hatten.
Er drehte sich auf den Bauch und gab Chira zu verstehen, sich ruhig zu verhalten. Vorsichtig kroch er näher an den Stein heran. Dicht auf den Boden gepresst, bog er das Geäst eines Busches zur Seite und spähte auf die Lichtung hinaus. »Rulfan?«, flüsterte Sayonas brüchige Stimme. »Bist du da, Rulfan?«
»Ja, ich bin da.«
Etwa ein Dutzend Gestalten liefen über die Lichtung zurück in Richtung Waldrand. Sie trugen Fackeln. Eine nach der anderen tauchte in die Dunstschwaden ein, die aus Gras und Gestrüpp stiegen, einen Fackelschein nach dem anderen verschluckte die Morgendämmerung.
Rulfan sah, dass sie zwei Fackeln zurückgelassen hatten. Ein paar Schritte vor dem Schutzpfandstein ragten sie brennend aus dem Waldboden. Er versuchte die Lichtung und den Wald auf der gegenüberliegenden Seite zu überblicken. Die Ruine des Affenturms war zur Hälfte von Wolken verhüllt. »Sie werden bald kommen«, flüsterte er.
»Ich habe Angst, ich habe solche Angst…«
»Ich weiß. Denke daran, dass wir in deiner Nähe sind.«
»Wir?«
»Mein Lupa und ich. Und Honbur, dein Geliebter, ist auch nicht weit.«
Sie warteten schweigend. Vogelgesang erhob sich ringsum im Wald. Rulfan schloss die Augen und lauschte. Das Geschrei von Affen mischte sich in das Trillern, Zwitschern und Pfeifen. Es war lange her, dass er dem Morgenchoral der Natur so bewusst gelauscht hatte. Er öffnete die Augen. Es war heller geworden, der Himmel glühte gelb und rot. Aus den Dunstschwaden auf der Lichtung schälten sich die Silhouetten von Menschen. Nach und nach wurden sie größer und deutlicher.
»Sie kommen«, flüsterte Sayona.
»Ich sehe sie.« Er zählte die näher rückenden Gestalten, er zählte sie wieder, er zählte noch einmal – es wurden immer mehr.
»Das sind viel mehr als zehn!« Sayonas Stimme klang schockiert. »Das sind fast dreißig Männer!« Rulfan hörte, wie sie aufstöhnte, wie sie Stoßgebete ausstieß, wie Tränen schließlich ihre Stimme erstickten. Auch ihm selbst verschlug es die Sprache. Es waren nicht dreißig Krieger, die dort über die Lichtung heranmarschierten, auch keine vierzig, sondern mindestens fünfzig. Zu viel für Ruulays Jäger und Fischer. Darauf waren sie nicht vorbereitet.
»Vater greift nicht an«, schluchzte Sayona. »Er darf nicht angreifen! Sie würden alle sterben…!«
»Still!«, fuhr Rulfan sie an. »Ich bin hier! Vertrau mir!«
Er sagte es und wusste doch in diesen Augenblicken nicht, wie er ihr Vertrauen rechtfertigen sollte. Sein Plan stand auf der Kippe. Ausgeschlossen, es allein mit fünfzig Kriegern aufzunehmen, mit Mördern, die den Tod nicht scheuten. Es gab nur einen Weg: Er musste das Mädchen losbinden und mit ihm fliehen!
Kaum hatte er den bitteren Gedanken zu Ende gedacht, erhob sich Kampfgeschrei auf der Lichtung. Hinter dem Schleier der Dunstschwaden stockte der Vormarsch der Turmherrenrotte. Vom rechten Waldrand stürmten zehn oder zwölf Großaffen durch das Gestrüpp, schwangen Schwerter und Äxte und schrien wie von Sinnen. Doch es waren keine Menschenaffen, nein – Honbur mit Sayonas Brüdern und ihre kleine Gruppe stieß dort das verzweifelte Kampfgeschrei aus. Durch Affenfelle getarnt, taten sie, was Rulfan ihnen befohlen hatte: Sie griffen die Flanke der Turmkrieger an. Was sie eigentlich erst tun sollten, während die Hauptgruppe der Moscherunen unter Ruulay der Turmherrenrotte in den Rücken fiel, taten sie jetzt ganz allein. Vermutlich, um die anderen zum Kampf zu ermutigen.
»Die Wahnsinnigen«, flüsterte Rulfan. Er zog sein Schwert und stemmte sich auf die Knie. Auf einmal drang auch vom gegenüberliegenden Waldrand her Kriegsgeschrei zu ihnen herüber. Er kniff die Augen zusammen und versuchte die Dämmerung und die Dunstschwaden mit Blicken zu durchdringen. Die Stimmen klangen kreischend und hoch. Kehrten etwa die Frauen zurück? Tatsächlich! Aus der Deckung des Waldrandes schossen die Weiber der Moscherunen ihre Jagdbögen ab.
Ein Pfeilhagel pfiff den Turmherrenkriegern entgegen.
Einige von ihnen suchten Deckung hinter den Büschen, anderen spurteten in Richtung Schutzpfandstein los, zwei Dutzend rissen Schwerter und Äxte heraus und stürmten den Frauen entgegen. Und jetzt brachen auch Ruulay und seine Jäger und Fischer aus dem Wald.
Verzweifeltes
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