1811 - Der Vogelmensch
es nichts.
Ich war schon öfter hier gewesen und wusste, wohin ich mich zu bewegen hatte, um in das Gästezimmer zu gelangen. Dort stellte ich die Tasche ab, schaute noch mal kurz nach draußen und fand, dass das Zimmer und auch das Haus sehr ruhig waren. Es fehlte einfach die Stimme einer Person, die hier auch lebte.
Ich ging zurück zu Maxine, die im Wohnraum stand und durch das Fenster schaute. Als sie mich sah, umspielte ein verlorenes Lächeln ihre Lippen.
»Sag bitte, wie du dich fühlst, John.«
»Nun ja, ein wenig leer schon.«
»Aha.«
»Es fehlt jemand. Das will ich mal so sagen.«
»Das trifft den Kern.« Sie nickte. »So sehe ich das auch. Nur weiß ich keine Möglichkeit, wie wir es schaffen sollen, dies zu ändern.«
»Mal sehen.«
Maxine kam zu mir und lehnte sich gegen mich. »Trotz allem bin ich froh, dass du gekommen bist. Ein wenig Hoffnung habe ich schon.«
»Das ist immerhin etwas …«
***
Es war so weit!
Er hatte sich überwunden und seine Maske vom Gesicht entfernt. Carlotta schaute nach vorn und hatte nur Augen für ihn. Für einen Menschen, für einen Vogel oder für beides. Ja, er war beides, da musste sie sich nur den Kopf anschauen, der wenig Menschliches an sich hatte. Es war der Kopf eines Vogels, zumindest zum großen Teil, und das war ebenso schaurig.
Gab es einen Mund?
Nein, dafür war ein Schnabel gewachsen. Recht groß und leicht gebogen. Ein Kinn war nicht zu sehen.
Dann gab es noch die Augen, die sich auch völlig verändert hatten. Sie waren ohne Leben, zwei starre Kugeln und nicht mehr. Sie saßen zwar in Höhlen, waren aber nach vorn gedrückt und sahen aus, als wollten sie nach außen rutschen. Eine Nase gab es nicht, es waren auch keine Ohren zu sehen, es gab nur noch über den Augen die ungewöhnlich glatte Stirn.
Was unterhalb des Gesichts folgte, das war normal. Ein nackter Oberkörper, auf dem die Tätowierungen besonders ins Auge stachen, das war auch alles.
Er trug eine Hose und an seinem Rücken waren die Flügel, die über die Schultern ragten.
Erst jetzt bemerkte sie, dass schwaches Licht von draußen in die Höhle fiel. Deshalb waren auch einige Dinge besser zu erkennen.
Dann hörte sie seine Stimme. »Na, was sagst du?«
»Was willst du hören?«
»Die Wahrheit.«
Carlotta nickte. Sie suchte nach Worten, und als sie diese gefunden hatte, veränderte sie sie auch nicht mehr. »Du kannst dich nicht mehr dagegen wehren, dass du so aussiehst.«
»Ja, sonst hätte ich es schon längst getan.«
»Dann bist du ein Produkt des Professors?«
»Das bin ich. Ich bin schon eine Weiterentwicklung, aber noch nicht völlig fertig. Ich wäre fertig geworden, wenn dieses Unglück nicht passiert wäre. Es ist aber passiert. Das Labor wurde zerstört, und der Professor kam um.«
»Ja, das weiß ich. Und wenn ich ehrlich sein soll, dann bedaure ich das nicht.«
Der Vogelmensch lachte. »Ja, du hast es besser getroffen, ich weiß das, denn ich habe dich beobachtet. Schon eine recht lange Zeit. Du hast das Beste aus deinem Schicksal gemacht.«
»Das war nicht ich. Das war ein Zufall, dass ich zur Maxine Wells gelangte.«
Der Vogelmensch nickte. »Die dir dann ein perfektes Zuhause geboten hat.«
»So kann man es nennen, und darüber freue ich mich auch.«
Die Gestalt vor ihr sagte nichts, und Carlotta dachte wieder über sie nach. Sie war etwas Besonderes. Sogar etwas Ungewöhnliches, und man konnte sie mit anderen Wesen nicht vergleichen. Es gab keine Geschöpfe, die Ähnlichkeit mit ihr hatten. Auch Carlotta sah anders aus. Sie war froh, dass sie nicht das Aussehen dieser anderen Gestalt erhalten hatte.
Und jetzt wartete sie. Etwas musste passieren. Das war ihr klar. Sie glaubte nicht daran, dass die Aktion mit der Entführung beendet war. Es ging weiter. Ihr Kidnapping war erst der Anfang. So musste es einfach sein. Etwas anderes konnte sie sich nicht vorstellen.
Draußen war es inzwischen hell geworden. Der Tag hatte die Nacht vertrieben. Carlotta fühlte sich müde. Wenn sie zu Hause gewesen wäre, sie hätte sich hingelegt und geschlafen. Aber sie war nicht zu Hause. Sie musste sich auf die neue Lage einstellen, die bestimmt auf sie zukommen würde.
Dann kam ihr der Gedanke, dass dieser Vogelmensch noch weitere Pläne verfolgte, und sie machte einfach mal den Versuch und sprach ihn an. »Was hast du denn jetzt vor?«
Er lachte. Mehr geschah vorerst nicht und Carlotta wunderte sich wieder, dass er reden und lachen konnte. Da gab es keinen Mund,
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