1817 - Der Nachtmahr
bekam. »Ein guter Trost, Mister Sinclair.«
»Danke.«
Sie wollte nicht schlafen und fragte deshalb: »Können Sie sich das denn leisten, die ganze Nacht wach zu bleiben? Müssen Sie nicht auch früh raus?«
»Nein, nicht unbedingt. Ich kann es mir aussuchen. Aber wie ist es bei Ihnen?«
»Ich habe eine Mittagsschicht.«
»Und wo?«
»In einem Blumenladen am Bahnhof. Victoria Station. Ich arbeite immer im Schichtdienst. Eine Woche fange ich früh am Morgen an, in der anderen habe ich dann die Schicht am Mittag. So ist das, und daran habe ich mich auch gewöhnt.«
»Das muss man ja wohl.«
»Sehr richtig.«
Ich wollte nichts mehr sagen und sie noch länger wach halten. Es war besser, wenn sie einschlief, und das war es irgendwie auch für mich. Aber ich wollte so lange wie möglich wach bleiben und mich von dem Nachtmahr nicht überraschen lassen.
Helen hatte ihn beschrieben. Sehr genau sogar. Und dabei war mir etwas aufgefallen. Vielleicht war er wirklich nur ein Vampir gewesen. Ein entstellter und widerlicher vom Anblick her.
War das neu für mich? Ich wusste es nicht, und ich hatte auch keine Lust, darüber nachzudenken. Es war jetzt einfach nur die Zeit reif, auf den Vampir oder Nachtmahr zu warten.
Oder war er beides nicht?
Mir kam ein alter Fall in den Sinn. Da hatte ich einen Nachtzehrer gejagt. Geschöpfe, die man mit Ghouls vergleichen konnte. Möglicherweise lief das auch in diese Richtung, sodass ich es mit ihnen zu tun bekam. Das machte keinen Spaß.
Es war ruhiger geworden. Die Türen in der Wohnung standen offen. Ich horchte nach meinem Gast, ob er schlief. Da ich nichts hörte, stand ich auf, um nachzuschauen.
In der eigenen Wohnung musste ich mich leise wie ein Dieb bewegen. Nichts wies darauf hin, dass etwas anders war als in den Nächten, die ich allein in meinem Apartment verbrachte.
Nach zwei weiteren Schritten durch den Flur erreichte ich die Tür zum Wohnzimmer. Jetzt war der Blick in den Raum frei. Natürlich auch der auf die Couch.
Und dort lag meine Nachbarin.
Ein Lächeln huschte über meine Lippen. Was ich nicht für möglich gehalten hatte, war tatsächlich eingetreten. Sie lag in einem tiefen und festen Schlaf. Besser hätte es nicht laufen können, und ich glaubte auch nicht, dass ein Angriff erfolgen würde. Es wies eigentlich nichts darauf hin. Alles sah so harmlos aus, ja, so wie immer, es war die nächtliche Ruhe, die sich hier ausgebreitet hatte. Wer sie erlebte, dem kam nicht unbedingt der Gedanke an einen Nachtmahr.
Auch ich versuchte, ihn zu verdrängen, als ich mich wieder hinlegte. Jetzt war ich innerlich zufriedener und setzte auf den morgigen Tag. Ich war nach wie vor davon überzeugt, dass es einen Grund gab, dass genau Helen Quest diesen Albtraum erlebt hatte.
Wen erwischte der Nachtmahr?
Wer war er überhaupt?
Gab es ihn wirklich? Oder war er nur Helen Quests Fantasie entsprungen?
Ich konnte darauf keine Antwort geben. Selbst ich, der ich mich als Fachmann bezeichnete, stand wie vor einer Wand. Der Druck, der Alb, vor allen Dingen der seelische Druck, das machte den Nachtmahr aus, sagten die einen.
Andere sahen es nicht so. Sie glaubten, dass es die Gestalten wirklich gab, die so plötzlich in der Nacht über die Menschen kamen und sie malträtierten.
Ich wusste es nicht. Ich kannte den Alb, diesen Druck auf der Brust des Schläfers, aber konnte er sich auch verwandeln und als Monster erscheinen?
Helen Quest schien es gesehen zu haben, obwohl ich mir nicht hundertprozentig sicher war, trotz der Angst, die sie durchlitten hatte. Und es war noch immer nicht die Frage beantwortet, warum es gerade sie erwischt hatte.
Ich dachte darüber nach und tat mir selbst keinen Gefallen damit, denn der Schlaf, den ich haben wollte, der kam erst mal nicht über mich, bis ich dann doch wegkippte und mir die Augen zufielen …
***
Ich schlief.
Ich war weg. Ich war in irgendwelche Tiefen gesunken. Ich befand mich in Sphären, in denen ich durch die absolute Dunkelheit schwamm, und ich war irgendwie auf der Suche. Wegtreiben. Woanders hin. Das Bewusstsein, das sich einen anderen Weg gesucht hat. Das sich vorantastete und hinein in andere Gefilde. In neue Welten, vielleicht in andere Dimensionen, das suchte, um zu finden aber auch vorsichtig sein musste.
Es war auf dem Weg.
Es hatte sich von seiner Basis gelöst. Es ging seinen eigenen Weg und ließ sich durch nichts aufhalten.
Bis zu dem Zeitpunkt, als es den Schmerz auslöste. Es war ein Stich, ein Brennen,
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