04 Im Bann der Nacht
PROLOG
London, 1814
D er Ballsaal bot eine verblüffende Farbenpracht. Im flackernden Kerzenschein wirbelten die in Samt und Seide gekleideten Damen in den Armen von eleganten Herren umher, und das strahlende Aufblitzen ihrer Edelsteine ließ einen funkelnden Regenbogen entstehen, der von den in die Wände eingelassenen Spiegeln zurückgeworfen wurde. Der stilvolle Prunk war atemberaubend, dennoch war es nicht das lebhafte Spektakel, das die Aufmerksamkeit der zahlreichen Gäste dauerhaft auf sich zog.
Diese Ehre gebührte Conde Cezar.
Mit der amüsierten Arroganz der Aristokratie bewegte er sich langsam durch die Menge. Dabei war nicht mehr vonnöten als ein Heben seiner schlanken Hand, damit sie sich wie das Rote Meer teilte, um ihm den Weg freizumachen, und ein Blick aus seinen glühenden schwarzen Augen, um die Damen (und einige Herren) in hektische Aufregung zu versetzen.
Zu ihrer eigenen Verärgerung legte auch Miss Anna Randals Herz einen Schlag zu, als sie das außerordentlich fein geschnittene Profil plötzlich zu Gesicht bekam. Denn das war völlig unnötig - Herren wie der Conde würden sich nie dazu herablassen, Notiz von einer armen, unbedeutenden Jungfer zu nehmen. Solche Herren nahmen nur Notiz von schönen, verführerischen Frauen, die auch noch den abgebrühtesten Schurken ermunterten.
Dies war der einzige Grund, weshalb Anna sich zwang, der schlanken, eleganten Gestalt auf den Fersen zu bleiben, als diese den Ballsaal verließ und die geschwungene Treppe erklomm. Eine arme Verwandte zu sein bedeutete, jede noch so unangenehme Aufgabe zu übernehmen, die sich ergab.An diesem Abend bestand ihre Pflicht darin, ein Auge auf ihre Cousine Morgana zu haben, die stets angezogen von gefährlichen Männern wie Conde Cezar war. Diese Faszination konnte schnell in einem Skandal für die gesamte Familie enden.
In ihrer Eile, ihn nicht zu verlieren, hob Anna ungeduldig den Saum ihres billigen Musselinkleides an. Wie sie es erwartet hatte, bog der Conde ab, als er das Ende der Treppe erreicht hatte, und schritt durch den Korridor, der zu den Privatgemächern führte. Ein solcher Windhund besuchte niemals etwas dermaßen Langweiliges wie einen Ball, ohne zuvor ein Stelldichein zu arrangieren. Alles, was sie tun musste, war, dafür zu sorgen, dass Morgana nicht das Opfer dieser Schändlichkeit wurde. Dann würde Anna in ihre dunkle Ecke im Ballsaal zurückkehren und weiter zusehen, wie die anderen Mädchen den Abend genossen.
Sie verzog das Gesicht bei diesem Gedanken und hielt wenig später inne, als die von ihr verfolgte Person plötzlich durch eine Tür schlüpfte und verschwand. Was nun? Obgleich sie nichts von Morgana gesehen hatte, schloss das nicht aus, dass diese sich bereits in dem Zimmer verbarg, um auf das Eintreffen des Conde zu warten.
Ihre egozentrische Cousine verfluchend, die nichts außer ihrem eigenen Vergnügen im Sinn hatte, lief Anna vorwärts und drückte vorsichtig die schwere Tür auf. Sie würde nur einen flüchtigen Blick hineinwerfen und dann …
Ein Schrei entwich ihrer Kehle, als schlanke Finger ihr Handgelenk packten, sie in den dunklen Raum zogen und die Tür hinter ihr zuschlugen.
KAPITEL 1
D ie Empfangshalle des Hotels in der Michigan Avenue war voller Leben. Im Licht des Kronleuchters stolzierten die Mächtigen Chicagos wie Pfaue umher und warfen gelegentliche Blicke auf den riesigen Brunnen, wo ein paar Halbprominente aus Hollywood sich mit den Gästen für eine schamlos hohe Gebühr auf Fotos ablichten ließen, die angeblich für einen guten Zweck bestimmt waren.
Die Ähnlichkeit mit einem bestimmten anderen Abend entging Anna nicht, die sich auch heute in einer dunklen Ecke herumdrückte und beobachtete, wie Conde Cezar sich wieder einmal gewohnt arrogant durch den Raum bewegte.
Allerdings war dieser andere Abend beinahe zweihundert Jahre her. Und obwohl sie keinen einzigen Tag gealtert war (eine Eigenschaft, die ihr, wie sie nicht leugnen konnte, so unangenehme Dinge wie Schönheitsoperationen und Mitgliedschaften in Fitnessclubs erspart hatte), war sie nicht mehr das scheue, rückgratlose Mädchen, das um Brosamen vom Tisch ihrer Tante betteln musste. Dieses Mädchen war in der Nacht gestorben, als Conde Cezar seine Hand ergriffen und es in ein dunkles Schlafgemach gezogen hatte. Gott sei Dank, dass sie es los war.
Ihr Leben mochte anderen vielleicht merkwürdig erscheinen, aber zumindest hatte Anna herausgefunden, dass
sie auf sich aufpassen konnte.
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