1848 - Zerrspiegel
dir so wichtig, Kreise zu zeichnen?"
„Wegen des Kreises - des vollkommenen Kreises", erklärte Anita stolz. „Das, was ich das erstemal in meinem Traum gesehen habe, war nur ein Ausläufer des Kreises. Deshalb haben wir immer versucht, den Kreis darzustellen, also nach innen zu kommen!"
„Das mußt du mir genauer erklären", bat Nadja.
„Wie meine Eltern", seufzte Anita.
„Aber deine Eltern haben es doch verstanden, nachdem du es ihnen erklärt hast, nicht wahr?"
„Ja ... schon. Aber das ist doch so einfach, ich meine, ein Kreis ..."
„Du hast versucht, den Kreis darzustellen. Ist es dir gelungen?"
„Den kann man doch gar nicht darstellen!" Anita seufzte erneut über die Begriffsstutzigkeit der beiden Frauen.
„Die Kreise pflanzen sich fort, so von innen nach außen, versteht ihr?"
„Von innen nach außen?"
„Ja. Also, das ist so wie beim Wasser." Anita hob ein Steinehen vom Boden auf und zeigte es den Schwestern. „Du wirfst den Stein hinein, und dann gibt’s so Ringe, von der Stelle aus, wo der Stein hineingefallen ist. Und die Ringe pflanzen sich fort, nach außen hin, in immer größeren Wellen. Das sind also die Kreise, und die äußeren Kreise sind die aus meinem Traum, und die inneren Kreise habe ich dargestellt, um den Weg zu dem Kreis zu finden!" Sie atmete tief ein.
Die Schwestern sahen sich an, als könnten sie durch Augenkontakt Anitas verwirrenden Wortschwall in etwas Verständliches übersetzen.
„Der Kreis ist also der innerste Ring, der erste Kreis, den, wie in deinem Beispiel, der geworfene und eingetauchte Stein ausschickt?" fragte Mila.
Anita strahlte. „Ja, genau so! Der Kreis ist der schönste von allen. Ihn wollten wir finden. Deshalb habe ich meinen Traum dargestellt, und dann haben die Eltern geträumt."
*
Anitas Begeisterung war nun nicht mehr aufzuhalten. Ihre Worte wurden zusehends verklärter und blumiger; sie stand noch immer gänzlich unter dem Einfluß des Philosophen immerhin war das Kritzelsyndrom nicht wieder ausgebrochen.
Das Mädchen benutzte erneut den Vergleich mit dem ins Wässer geworfenen Stein. „Die Kreise des Philosophen pflanzen sich wie Ringwellen im Wasser fort, von innen nach außen."
„Aber das geht nur über eine bestimmte Reichweite, bevor sich die Wellen verlaufen", gab Nadja zu bedenken.
„Dafür sind die Erwählten da, die es geschafft haben, den Inneren Kreis zu betreten", sagte Anita. „Sie werfen wiederum Steine, um die Wellen in Bewegung zu halten. Das geschieht ständig. Jeder von uns im Inneren Kreis hat das getan, damit auch viele andere das Wunder erfahren."
„Was für ein Gefühl hattest du im Inneren Kreis?"
„Alle meine Wünsche haben sich erfüllt, ich konnte fliegen. Ich war frei, zu tun, was ich will, und ich wußte auf einmal viele Dinge, die ich gar nicht gelernt hatte!"
Anita redete sich immer mehr in Begeisterung hinein.
„Während ich zu Hause die Kreise gezeichnet hatte, hat trotzdem etwas gefehlt, so wie die Schokoladensoße zum Eis, wenn ihr versteht, was ich meine. Es war so ein Gefühl, als müßte ich irgendwohin ... den Kreis zu finden. Mein Vater hat die besten Kreise gezeichnet, aber trotzdem waren sie nicht ganz vollkommen. Wir sind zu anderen Leuten gegangen, um ihre Kreise zu sehen, aber das war auch nicht genug. Da haben wir einen Gleiter genommen und uns auf die Suche gemacht."
„Hast du gewußt, in welche Richtung?"
„Ich hatte so ein Gefühl ... Meine Träume veränderten sich, je nachdem, in welche Richtung wir uns wandten. Die Kreise leuchteten mehr und weniger, und es zog mich schließlich immer mehr hierher."
„Ihr habt also von selbst hierhergefunden?"
„Allerdings. Aber wir waren natürlich nicht die einzigen, da kamen noch viel mehr dazu. Manche hatten kein Fahrzeug und mußten zu Fuß gehen, bis sie von anderen mitgenommen wurden. Ich habe da bereits die Stimme gehört ..."
„Die Stimme des Philosophen?"
„Ja. Aber nicht laut, verstehst du, sondern da drin." Sie tippte an ihren Kopf. „Fast wie in den Träumen von den Kreisen, aber eben eine Stimme. Sie sagte, daß ich im Inneren Kreis erwartet werde. Na ja, und dann ...
war ich drin!"
„Und deine Eltern?" hakte Mila nach.
„Keine Ahnung." Anita zuckte gleichgültig mit den Achseln. „Ich denke, sie sind immer noch drin. Wir sind alle eine große Familie, wir müssen uns nicht immer sehen. Aber das könnt ihr nicht verstehen, ihr wart nie drin."
Nadja nickte. „Ja, deshalb ist es sehr schön, daß
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