186 - Wächter der Stille
aus!
Der Boden war gepflastert mit Krebsschalen, die wohl früheren Hydreegenerationen als Brustpanzer gedient hatten.
An vielen waren noch Initialen zu erkennen; allerdings auch Kerben und Bruchstellen, die sehr anschaulich vom Schicksal der Träger erzählten.
Seepockengehäuse sprenkelten die Wände mit einem Sternenmuster. Sie waren an die Energieversorgung der Stadt angeschlossen und verbreiteten ein sanftes indirektes Licht. Es erreichte noch einen Teil der konisch zulaufenden Decke, doch die wuchs so hoch empor, dass sich ihr Ende den Blicken entzog.
Der Saal war leer bis auf eine riesige weiße Schneckenmuschel. Ihre Öffnung zeigte nach vorn. Sie war groß genug, dass man aufrecht hinein gehen konnte.
Die Gefährten fühlten sich wie magisch angezogen. Etwas rief aus der Muschel wie ein Lied ohne Worte, ein Ton ohne Klang. Fließend wuchsen dazu Wisperstimmen aus den Wänden. Und plötzlich waren sie wieder da – jene rätselhaften Lichtflecken auf den Druckanzügen der Marsianer, die auswichen, wenn man nach ihnen griff.
»Ich will jetzt wissen, was das ist!«, sagte Vogler entschlossen. »Offenbar hat das alles mit dieser Muschel zu tun. Kommt, wir sehen sie uns aus der Nähe an!«
»Nein!« Quart’ol breitete abwehrend die Hände aus, versperrte den Marsianern den Weg. Er war blass und nervös, suchte nach Worten. »Wenn es in dieser Kammer tatsächlich so etwas wie eine Schatztruhe gibt«, sagte er schließlich, »dann enthält sie das Wissen der alten Hydree und ist nicht für Außenstehende bestimmt. Lasst mich allein versuchen, Kontakt aufzunehmen.«
»Wir begleiten dich«, sagte Clarice.
Quart’ol schüttelte den Kopf. »Ich muss das allein tun.«
Zögernd setzte er sich in Bewegung. »Wartet hier auf mich!«, bat er leise.
***
»Wer bist du, und was ist dein Begehr?« fragte eine Stimme in Quart’ols Kopf, als der Hydrit die rätselhafte Muschel betrat.
Er blieb auf der Schwelle stehen, spürte, dass ein tieferes Eindringen nicht erwünscht war. Von dieser Position aus konnte er gerade noch das Ende der ersten Schneckenhauswindung sehen. Ein Schatten lag darauf.
»Ich bin Quart’ol, ein Quan’rill. Ich komme in Frieden, und ich möchte etwas über die Geschichte meines Volkes erfahren.«
»Wozu brauchst du dieses Wissen?«
Quart’ol zögerte. Er hatte das Gefühl, dass der Fragensteller die Antwort schon kannte.
»Es ist mein Wunsch, in den Bund der Gilam’esh-Anhänger aufgenommen zu werden«, sagte er. Stille folgte seinen Worten. Sie hielt an, immer länger, und so fügte er hinzu:
»Doch ich muss mich erst rehabilitieren, denn man hat mich des Verrats beschuldigt.«
»Und bist du ein Verräter, Quart’ol?«
»Nein, das bin ich nicht«, erwiderte Quart’ol ruhig. »Ich bin ein Freund der Menschen – guter Menschen! – und ich suche nach der Wahrheit über unser Volk.«
»Dann soll deinem Wunsch entsprochen werden. Doch höre meine Warnung! Viele haben vor dir die Kammer des Wissens aufgesucht. Den meisten wurde sie zum Verhängnis. Hier walten Kräfte, die außerhalb deiner Vorstellungskraft liegen, und wenn du zu lange verweilst, bist du verloren!«
»Ich werde alles tun, was du sagst«, versprach Quart’ol.
»Dann öffne deinen Verstand!«
Quart’ol spürte, wie ihn eine machtvolle Energie durchfloss.
Sie nahm von ihm Besitz, ließ seine Augen erblinden für den Raum, in dem er stand, und öffnete ihnen stattdessen den Blick in eine fünfte Dimension. Quart’ol sah, was die Stimme sagte.
Es war faszinierend, berauschend fast. Die Marsianer waren vergessen. Raum und Zeit waren vergessen. Alles löste sich auf, wurde unbedeutend. Nur noch diese sichtbare Stimme zählte. Sie allein.
»Höre das Mysterium der Kammer des Wissens! Dreizehn Weltenwanderer und Quan’rill aus verschiedenen Epochen haben den Kreis des Lebens verlassen – den Wechsel in junge, neue Körper – und sich an diesen Ort gebunden. Ihr Wissen ist hier vereint, das lebendige Wissen um die Geschichte unseres Volkes. Sie waren Zeitzeugen, ich bin ihr Wächter, und zusammen sind wir die Chronik der Hydree, die Hüter aller Geheimnisse. Der Umfang dessen, was wir erzählen können, würde den Geist eines Einzelnen vielfach überfordern. Deshalb frage nur, was du wissen musst, Quart’ol, und nicht, wonach es dich giert, es zu erfahren!«
Quart’ol schlug das Herz bis zum Halse. Was für ein Geschenk wurde ihm hier zuteil! Welch einmalige Möglichkeit eröffnete sich ihm! Quart’ol
Weitere Kostenlose Bücher