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188 - Der lebende Nebel

188 - Der lebende Nebel

Titel: 188 - Der lebende Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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Rulfan hörte ein empörtes Keuchen, dann das Zischen einer Schneide.
    Er war vorbereitet und ging gedankenschnell in die Knie.
    Über ihm durchschnitt die Klinge des Türstehers die Luft.
    Rulfans Rechte bohrte sich in den Bauch des Mannes. Der ließ den Säbel fallen und schnappte nach Luft. Rulfan kam wieder hoch und holte aus. Doch bevor seine Faust das Kinn des Wächters treffen konnte, knickten dessen Knie ein und er fiel auf das Steißbein. Gleichzeitig ging die Tür des Gasthauses auf. Eine schwarze Faust packte Rulfans blasse Hand und hielt sie wie ein Schraubstock fest.
    »Victorius!«
    »Was geht hier vor?« Victorius schaute verwundert auf den am Boden sitzenden Türsteher, der benommen in die Luft stierte.
    »Ich bin gekommen, um dich abzuholen«, sagte Rulfan, ohne auf die Frage einzugehen. »Ich habe Brennstoff und Trinkwasser geordert, aber noch nicht bezahlt.«
    »Ach, jaaa…« Victorius machte eine lahme Geste, die Rulfan nicht geheuer war, denn sie signalisierte absolutes Desinteresse. »Darüber müssen wir uns bei Gelegenheit mal unterhalten. – Aber nicht jetzt.« Er deutete hüstelnd auf die Tür, durch die er gerade ins Freie getreten war. »Folgendes: Liwán und ich haben gestern Abend bei einem Gläschen am Kamin festgestellt, dass wir starke Gefühle füreinander empfinden. Aus diesem Grund habe ich beschlossen, sie näher kennen zu lernen. Für die nächste Zeit plane ich einige Exkursionen zu den historischen Schauplätzen dieser Insel und eine nähere Bekanntschaft mit Liwáns Familie. Sie hat sieben Brüder, die ausnahmslos kaufmännisch tätig sind und zur See fahren…« Er griff in eine Innentasche seines Fracks, reichte Rulfan ein fingerhutgroßes Säckchen mit Goldstaub und deutete zum Himmel hinauf. »Das hier ist doch das reinste Paradies! Sag selbst: Hast du schon mal solche Farben gesehen?«
    »Was?« Rulfan hob den Kopf. Nun ja, der Himmel war schön blau, wie immer.
    »Und das Grün.« Victorius deutete auf das Gras, das zwischen den Häusern wuchs. »Und erst das Meer!« Er zeigte in Richtung Hafen. »Und der Sand! Ich habe noch nie so gelben Sand gesehen!«
    Der Türsteher hob seinen Säbel auf und lauschte mit offenem Mund. Victorius wandte sich Rulfan zu und klopfte ihm auf die Schulter. »Ich bin heute so gut gelaunt wie noch nie«, verkündete er. »Ich liebe die Welt und die Menschen.«
    »Ach, wirklich?«
    »In der Tat.« Victorius zog die Nase hoch. Er wirkte wie ein Elfjähriger, der gerade herausgefunden hat, dass Mädchen nicht nur dazu auf der Welt sind, damit Jungen an Zöpfen ziehen können. »Folgendes: Ich glaube nicht, dass ich noch Lust habe, dem Ruf der Macht zu folgen.« Victorius deutete erneut auf den Himmel. »Diese Insel ist so schön, dass nur ein Kretin von hier fortgehen würde. Auch du solltest dir eine liebe Frau suchen und den Rest deiner Tage in der Sonne sitzend verbringen.« Victorius lächelte. »Alt genug bist du ja.«
    Damit drehte er sich um, kehrte ins Haus zurück und zog die Tür hinter sich zu.
    Rulfan konnte es kaum fassen. Er schaute den Türsteher an.
    »Da fehlen auch dir die Worte, was?«
    »Geh, wo Feffoh wäxt.« Der Türsteher stützte sich linkisch auf seinen Säbel und musterte Rulfan mitleidig.
    ***
    Yonniboi kannte sich mit der lokalen Währung aus.
    Er war der Meinung, drei Zehntel des Goldstaubs reiche für Wasser und Holz. Sein Vermittlungsdienst war ihm zwei Zehntel wert. Er füllte also die Hälfte des Säckchens in eine Blechdose um.
    Anschließend half er dem sehr nachdenklichen Rulfan, die Waren zur Roziere zu bringen. Der Ballon war in der kühlen Nacht gänzlich erschlafft und bedeckte die Gondel wie ein bunter Lappen. Yonniboi runzelte nicht mal die Stirn: Er hatte solche Dinger im Laufe seiner seemännischen Tätigkeit öfter gesehen – für Rulfan ein Anzeichen, dass die Zivilisation wieder auf dem Vormarsch war.
    Chira freute sich über seine Rückkehr. Sie verschwand im Gebüsch, um Geschäfte zu erledigen und die neue Umgebung zu erkunden. Victorius’ Fledermäuschen schlief in ihrem Netz.
    Da das nachtaktive Geschöpf sich selbst versorgte, sah Rulfan es nicht als seine Aufgabe an, es zu füttern.
    Nachdem die Scheite und die Wassersäcke verstaut waren, schaufelte Rulfan Asche aus dem Brennofen und bestückten ihn mit allem, was ein Start erforderte. Anschließend nahmen Yonniboi und er am Klippenrand Platz und schauten aufs Meer hinaus. Südlich und westlich von ihnen wimmelte es von Inseln, die so

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