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188 - Der lebende Nebel

188 - Der lebende Nebel

Titel: 188 - Der lebende Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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Händlerzelten wimmelte es von Menschen. Rulfan versuchte den Namen des Katamarans zu lesen, doch die Schriftzeichen sagten ihm nichts. Neben dem Namen prangte der Kopf eines Fabelwesens: eine wütend fauchende Raubkatze mit Hörnern.
    Schwarz bemähnte junge Malaien mit roten Stirnbändern und weißen Lendenschurzen trugen Kisten an Land, die mit grünen Flaschen gefüllt waren. Sie stellten sie auf dem Kai an einem Tisch ab, hinter dem ein bürokratisch wirkender Glatzkopf mit einem Spitzbart saß. Er hielt einen Gänsekiel in der Hand, und vor ihm lag eine aufgeschlagene Kladde.
    Hinter den Buchhalter stand, hoch aufgerichtet und den Mob genau beobachtend, ein Mann, der Beinkleider und ein weißes Jackett mit goldener Paspelierung trug. Er wirkte wie der Kapitän eines Kreuzfahrtschiffes aus dem 20. Jahrhundert.
    Yonniboi war nicht der Einzige, der sich für den Katamaran interessierte: Mindestens dreihundert palavernde Insulaner waren am Liegeplatz des Schiffes zusammengeströmt.
    Ein marineblau gekleideter Barfüßiger, auf dessen Brust ein Messingstern prangte, stolzierte wichtigtuerisch auf den Kapitän zu und sprach ihn an.
    Der Hafenmeister? Der Kapitän behandelte ihn mit Respekt, doch das versammelte Volk schien ihn für einen Störenfried zu halten, denn es rief Worte, die in Rulfans Ohren wie Schmähungen klangen. Der Blaurock zeigte den Rufern den Mittelfinger. Daraufhin lachten alle, und Rulfan empfand es als sehr genehm, dass sie keine Messer zückten. Die Seeleute, die an der Gangway standen, lachten ebenfalls, bis der Kapitän sie mit einer Geste zum Schweigen brachte. Rulfan setzte sich wieder in Bewegung. Seine Gedanken schweiften ab: Was sollte er tun, wenn Victorius nicht zu bewegen war, Loaloa den Rücken zu kehren? Sollte er allein nach Australien gehen? Er war dem Afraner bei der Befeuerung und Steuerung der Roziere oft zur Hand gegangen. Er hatte ihn auch am Steuer vertreten und verstand genug von Navigation, um allein den Weg zu finden.
    Doch konnte er den Menschen, der ihm selbstlos das Leben gerettet hatte, in der Obhut einer Frau zurück lassen, die ihn in ihrem Egoismus von einer Droge abhängig machte, nur um ihn zu halten?
    Nein. Er würde nicht allein gehen. Er musste Victorius klar machen, was ihm drohte, wenn er allein hier blieb.
    Rulfan blieb stehen und reckte den Hals, um zu prüfen, wie weit Liwáns Gasthof noch entfernt war. Dabei traf sein Blick den des Kapitäns, der sich gerade vom Hafenmeister verabschiedete. Er war etwa dreißig und hatte schwarze Augen, die nun, als sie Rulfan erblickten, eigenartig aufblitzten.
    Die verächtlich herabgezogenen Mundwinkel des Mannes sagten Rulfan alles: Dieser Mensch hasste ihn, ohne ihn zu kennen. Was hatte Yonniboi gesagt? Keine nennenswerte Kriminalität bedeutete nicht, dass es auf Loaloa überhaupt keine Straftaten gab.
    Wie aufs Stichwort hin tauchte Yonniboi aus der Menge auf.
    Er packte Rulfan am Arm und verschwand mit ihm zwischen zwei Zelten. »Wer auf seine Gesundheit Wert legt, geht Kaoma Saleh aus dem Weg«, zischte er. »Seit seine Mutter mit einem Kapitän durchgebrannt ist, hasst er alle Langswoyne und sieht in jedem Fremden den Mann, der ihm auch noch die Schwester stehlen will.«
    »Seine Schwester interessiert mich nicht«, gab Rulfan zurück. Er wehrte den an seinen Ärmeln zerrenden Yonniboi ab.
    Der ließ ihn nicht los. »Das spielt keine Rolle. Wenn ein Kerl wie Kaoma dich ins Auge gefasst hat, kann es dir passieren, dass du eines Tages aufgeschlitzt im Hafenbecken schwimmst – und das nur, weil er…«
    Weiter kam er nicht, denn hinter ihnen brach ein Tumult aus. Jemand, der eine leere Flasche schwenkte, hatte den Kreis der am Katamaran anstehenden Gaffer durchbrochen und den Zorn der Mannschaft auf sich geladen.
    »Komm mir bloß nicht mit Sprüchen wie ›Der Mann, der mich ins Hafenbecken wirft, muss erst noch geboren werden‹«, fuhr Yonniboi fort. »Typen wie Kaoma finden nichts Ehrloses daran, zwölf Mann auf einen zu hetzen und ihm das Herz rauszuschneiden.«
    Klirren. Gemurmel. Flüche. Füßescharren. Die vor dem Katamaran versammelten Menschen spritzten schreiend auseinander.
    »Komm mit«, sagte Yonniboi. »Hier ist es entschieden zu ungesund…«
    Es klirrte noch lauter. Das auseinander spritzende Volk machte Rulfan das Blickfeld frei: Ein Mann mit einem Turban, dessen blasses Gesicht andeutete, dass es ihm nicht gut ging, war über einen der Säcke gestürzt, die Kaomas Leute an Land getragen

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