19 - Am Jenseits
vielmehr an, daß du dich geirrt hast. Mein Körper ist es gewöhnt, von der Seele zeitweilig verlassen zu werden, und wenn sie in diesem Falle zwei Tage abwesend gewesen ist, also viel länger als es sonst der Fall zu sein pflegte, so darf man dies doch noch nicht als Scheintod bezeichnen, von welchem es nur ein kleiner Schritt ins Grab hinunter ist.“
Bei dieser Äußerung, die geeignet war, unser um die Errettung des Münedschi wohlerworbenes Verdienst zu schmälern, nahm Halef das Wort. Der letzte Teil des Gespräches hatte ihm schon nicht gefallen, und nun er glaubte, um den Dank, welchen er beanspruchte, gebracht werden zu sollen, fuhr er in beinahe zornigem Tone auf:
„Noch ein Schritt? Also denkst du, dich noch außerhalb desselben befunden zu haben? Du lagst ja schon drin, vollständig drin im Grabe, und es war auch schon fast ganz zugeworfen; nur dein Gesicht war noch frei! Wenn deine Seele die üble Angewohnheit hat, den Körper öfters zu verlassen, um neugierig in der Welt herumspazieren zu gehen, so kann ich nichts dagegen haben, denn sie ist nicht meine Seele, welcher ich solche Unbedachtsamkeiten freilich nicht gestatten würde, denn wenn sie einmal den Rückweg verlieren oder gar vielleicht vergessen sollte, wem sie angehört, so irrt sie dann als unernährte, gattenlose Witwe im Weltall herum, und ich liege da, ohne zu wissen, wo ich sie zu suchen habe und wen ich nach ihr schicken soll! Daß mir das, und warum es mir im höchsten Grade unangenehm sein würde, das brauche ich dir wohl nicht erst lange zu erklären! Es will doch jeder vernünftige Mensch im faktischen Besitze seiner rechtmäßigen Seele sein, ohne ihr gestatten zu müssen, mit freundlichem Lächeln wie die Frauen und Töchter des Abendlandes auf den Eisenbahnen herumzufahren. Beliebt es dir, von dieser vorsichtigen Behandlung der Bewohnerin deines Körpers eine Ausnahme zu machen, so habe ich, wie bereits gesagt, nichts dagegen einzuwenden, zumal du uns mitgeteilt hast, daß sie bisher stets schon nach kurzer Zeit und pünktlich wieder zurückgekehrt ist, obwohl für eine leichtsinnige Seele auch das schon vollständig genügt, verschiedene Allotria und sonstige Dinge zu treiben, die ihr eigentlich verboten sind. Aber bedenklich, höchst bedenklich wird die Sache, wenn sie auf einmal anfängt, gleich zwei volle Tage wegzubleiben! Das ist doch unbedingt gegen den inzwischen leblosen Körper eine Rücksichtslosigkeit, die er sich unmöglich gefallen lassen kann, zumal es ihm in seiner Pflichttreue und Ordnungsliebe niemals eingefallen ist, auch einmal ohne sie spazieren zu gehen und sie einsam und ohne Subsistenzmittel zu Hause sitzen zu lassen! Daß du dir auch das gefallen lassen willst, nun, ich kann es ja nicht ändern, sondern nur sagen, daß ich an deiner Stelle sehr energische Maßregeln ergreifen und ihr den Standpunkt so klar machen würde, wie es einer solchen, gern aussichtslos herumstreifenden Seele gegenüber nur immer möglich ist. Das Schlimmste aber, ja das Allerschlimmste, was dabei zum Vorschein kommt, ist die Täuschung, in welcher du dich in Beziehung auf deinen von ihr so leichtfertig verlassenen Leib befindest! Du scheinst nämlich zu glauben, daß ihm diese ihre Flatterhaftigkeit nichts schaden könnte; ja, du stellst sogar die Behauptung auf, daß du gar nicht scheintot gewesen seiest. O Münedschi, auf deine Seele ist selbst dann kein Verlaß, wenn sie sich daheim in deinem Körper befindet, denn sonst würdest du ganz gewiß anders sprechen! Ich sehe ein, daß ich dir zu Hilfe kommen muß, indem ich dir der Wahrheit nach berichte, wann, wo und wie wir dich gefunden und dann ausgegraben haben. Höre mich also an!“
Es folgte nun ein sehr lebendiger und stellenweise sehr drastischer Bericht über die Begebenheit, von dem Augenblicke, an welchem wir die Geier bemerkt hatten, bis zum gegenwärtigen. Nun erst erfuhr der Blinde in ausführlicher Weise, daß und warum seine Gefährten ihn wirklich verlassen hatten; er sah ein, daß er wirklich begraben gewesen war, und nun stellte sich die Angst nachträglich bei ihm ein. Er holte den bis jetzt versäumten Ausdruck des Dankes in einer Weise nach, welche selbst den in dieser Beziehung sehr anspruchsvollen Halef befriedigte. Zu der Angst und dem Gefühle der Dankespflicht gesellte sich dann die schwere Sorge wegen seiner Hilflosigkeit. Was sollte nun aus ihm werden? Seine Bekannten hatten ihn begraben, und er befand sich blind und ohne alle Mittel zum
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