19 - Am Jenseits
Hoch über mir leuchtet ohne Anfang und Ende die Liebe des Himmels. Hoch über mir beten die Scharen der Seligen zum Lichte der Welt. Tief unten zieht Finsternis über die Länder, der Haß und die Zwietracht über Berg und über Tal. Wo sind die, welche Gottes Stimme hören und aufwärts steigen zum ewigen Glück? Es sind ihrer so wenige, daß ich sie nicht zu sehen vermag. Das Geschlecht der Menschen hat keine Augen, um zu sehen, und keine Ohren, um zu hören; es geht der Nacht entgegen anstatt dem Tage. Einer lockt und winkt dem andern; einer schiebt und drängt den andern; so führen und stoßen sie sich weiter und weiter, vom Lichte ab und der Finsternis entgegen. Die Menschen wollen sich von Allah nicht mehr strafen, nicht mehr leiten und führen lassen. Sie halten ihren eigenen Geist für klüger als den Geist der Liebe und der Wahrheit, der alle Himmel regiert und alle Welten lenkt. Sie sitzen darüber zu Gericht, ob es einen Gott gibt oder nicht. Entweder verleugnen sie ihn, oder, wenn sie das nicht tun, so lassen sie sich von ihrer armen, blinden Wissenschaft einen Tempel bauen, in welchen sie ein Abbild ihrer hochmütigen Schwäche setzen, um es Gott zu nennen. Ich sage euch, diese Anbetung ihrer eigenen Ohnmacht ist eine Abgötterei, welche Allah strenger bestrafen wird als den unverschuldeten Irrtum der Heiden, welche nur deshalb Götzen verehren, weil sie keine Offenbarung hatten! Das sagt Ben Nur, der Sohn des wahren Lichtes, dem ihr verwehrt, in eure Herzen einzudringen und eure Seelen zu erleuchten!“
Nach diesen Worten blieb er noch einige Zeit mit hoch erhobenem Arme stehen, ließ ihn dann sinken und drehte sich um, den Lichtkreis wieder zu verlassen und im dunkeln Hintergrunde zu verschwinden. Niemand wagte es, ihm dorthin zu folgen. Keiner der Beni Khalid rührte sich von der Stelle. El Ghani, der erst starr vor Schreck gewesen war, sprang jetzt auf und rief:
„Er war es; er war es ganz gewiß! Es ist eine Kijahma! Er ist von den Toten auferstanden und uns erschienen, um uns von dem Leben nach dem Tode zu überzeugen, wie er es mir einst, als ich nicht daran glaubte, versprochen hat!“
„Eine Kijahma? Vom Tode erstanden?“ fragte Scheik Tawil Ben Schahid. „Also ein Geist! Welchem Mann hat diese zurückgekehrte Seele angehört?“
„Dem Münedschi, von dem ich dir heut nach unserm Zusammentreffen mit euch erzählt habe, daß er gestorben und von uns begraben worden ist.“
„Allah beschütze und bewahre uns! Es gehe ja keiner von euch da hinüber, wo der Geist verschwunden ist, denn er würde ihm ins Reich der Toten folgen müssen! Wir wollen uns vielmehr beeilen, so schnell wie möglich von diesem Orte der Gespenster fortzukommen.“
„Aber der Zweikampf? Was wird aus ihm?“ fragte ich.
„Er wird morgen, wenn es Tag ist, ausgefochten werden. Wir reiten jetzt hinaus in die Wüste, bis dahin, wo wir vorhin gewesen sind. Ihr reitet natürlich mit?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Weil wir uns nicht vor Gespenstern fürchten und weil unsere Kamele durstig sind. Wir müssen sie tränken.“
„Der Brunnen ist leer; wir haben ihn ausgeschöpft, und das Wasser muß sich erst wieder ansammeln. Ihr könnt also vor dem Morgen eure Tiere doch nicht trinken lassen.“
Ohne meine Antwort darauf abzuwarten, wendete er sich an El Ghani:
„Steht auf, und macht euch fertig! Ihr bleibt natürlich auch nicht hier an diesem Orte der spukenden Geister.“
Der Mekkaner antwortete, anstatt sogleich ja zu sagen:
„Erst muß ich wissen, ob die Haddedihn mitgehen.“
„Warum?“
„Da uns der Geist unseres Freundes erschienen ist, so müssen wir noch kurze Zeit hier bleiben, um für ihn zu beten. Dabei müssen wir aber ungestört von ihnen sein. Wenn sie sich mit euch entfernen, können wir das tun, sonst nicht. Dann kommen wir sogleich nach.“
Es konnte gar nichts Dümmeres als diese Bedingung und dieses Versprechen geben. Es handelte sich natürlich um das Versteck. El Ghani wollte die Sachen dort holen und dann mit seinen Leuten die Flucht ergreifen. Gelang ihm dies, so bekam er während der langen Nacht, die vor uns lag, einen Vorsprung, der ihn in Sicherheit brachte, zumal der Perser gar nicht wagen durfte, ihn noch weiter zu verfolgen. Da vorhin das Entsetzen des Mekkaners vor dem vermeintlichen Geist ein so großes gewesen war, so mußte sich der Scheik der Beni Khalid eigentlich sagen, daß ihn wohl ein anderer Grund als derjenige des Gebetes hier zurückhalte; es kam ihm aber
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