191 - Das Duell
werden, erwartete, dass die Reißzähne sich in seine Kehle bohrten.
Nichts von all dem geschah: Der weiße Lupa flog einfach durch ihn hindurch. Rulfan fuhr herum und sah ihn hinter sich in der Wand verschwinden.
Er hob die Öllampe. Ihr zitternder Lichtschein fiel auf glatten rötlichen Fels. Keine Spur von Wulf mehr; als hätte die Wand ihn verschluckt. Rulfan wankte zu dem Eingang, von dem aus Wulf ihn angesprungen hatte.
Nein, nicht Wulf – ein Phantom, das Wulf bis aufs Haar glich. Er ließ sich auf der Stufe vor der Türschwelle nieder und verbarg das Gesicht in beiden Händen.
Wulf…
Auf einmal stand ihm jenes Bild vor Augen, das er sein Leben lang nicht vergessen würde: Er geht am Ufer des Großen Flusses entlang, erschöpft und verwundet von dem mörderischen Kampf gegen den Wulfanenfürsten, hinter ihm raschelt es im Schilf, und er dreht sich um und sieht einen großen weißen Luparüden auf sich zutrotten – und in dessen Fängen einen weißen Lupawelpen.
Neunzehn Jahre war das her. Oder schon zwanzig? Er war auf der Suche nach seiner Mutter und seiner Schwester gewesen und auf der Flucht vor seinen Todfeinden. Der alte Wulfanenfürst von der Insel Saardiny und seine Kriegshorde waren hinter ihm her.
Am EWAT, den er Jahre zuvor im Uferwald versteckt hatte, lauerten sie ihm auf. Ihm, dem letzten Sprössling der Reesa. Rulfan tötete erst den Sohn des Halbwulfanen und dann den Fürsten selber. Es war der schwerste Kampf seines Lebens gewesen. [3] Wahrscheinlich wäre er den Südländern damals dennoch in die Falle gegangen, wenn die Lupas sie nicht überfallen und vertrieben hätten. Acht oder neun von den Tieren zerfleischte Körper seiner Feinde hatte er in der Umgebung des Panzers gefunden.
Und dann dieses unvergessliche Erlebnis mit dem Rudelführer der Wolfsmutanten: Der weiße Rüde legte den weißen Welpen vier Schritte vor ihm ab und huschte zurück ins Schilf. Ein Geschenk. Ein Familiengeschenk sozusagen, denn Rulfans Mutter Canduly hatte als Kind drei Jahre bei dem Rudel gelebt und war von ihm großgezogen worden.
Er schloss das kleine Fellbündel damals sofort ins Herz. Er nannte es Wulf; solange der weiße Lupa lebte, sollte er ihn daran erinnern, dass er den Todfeind seiner Familie besiegt und wem er das zu verdanken hatte.
Rulfan lehnte gegen den Felsrahmen des Eingangs.
Die Kälte des Gesteins drang in seine Schultern, in seine Rippen, sein Gesäß. Er merkte es kaum. Erinnerungen stiegen aus seiner aufgewühlten Seele, Bilder und Gefühle, und er konnte nichts dagegen tun.
Auf einmal war auch jenes andere Bild da, das er seit vier Jahren vergeblich zu vergessen versuchte: Ein weißer Lupa, der seinen verwundeten Körper hochstemmte und sich zu ihm schleppte, um ihn zu begrüßen; eine schöne Frau, die an ihm vorbeiging und sich dem knurrenden Lupa näherte. Er mag mich nicht, sagte sie, hob ihr Lasergewehr, zielte auf Wulf und drückte ab.
Wulf, der weiße Lupa, krümmte sich und starb…
In sich zusammengesunken hockte Rulfan an der Felswand. Er spürte, wie seine Schultern zuckten, er fühlte, wie seine Gesichtshaut und die Innenfläche seiner Hände nass wurden…
Später stand er auf und marschierte einfach los. Er musste raus hier, so schnell wie möglich, sonst würde er noch durchdrehen. Aus jedem Labyrinth gab es einen Ausgang. Man musste man ihn nur finden.
Er versuchte zu verstehen, was geschehen war. Der mörderische Kampf mit dem Anangu, die Begegnung mit Wulfs Phantom, seine Angst, seine Trauer…
Er träumte nicht, daran zweifelte er keinen Augenblick. Was er hier erlebte, war die Wirklichkeit.
Zugleich aber war er auch sicher, dass nicht Wulf, sondern eine Schimäre ihn angesprungen hatte; die Schimäre seiner Trauer um Wulf, und zugleich eine Schimäre seines schlechten Gewissens, weil er seinen treuen Gefährten damals nicht vor der Daa’murin beschützt hatte. Und der mörderische Kampf mit dem Anangukrieger – glich er nicht seinem mörderischen Kampf gegen den Wulfanenfürsten damals vor neunzehn Jahren?
Je weiter er ging und je länger er nachdachte, desto deutlichere Konturen nahm seine Theorie an. Sie lautete: Alles, was er hier im Dunkel dieser Bunkerstadt erlebte, hatte mit seinem wirklichen Leben zu tun. Rulfan musste an seine Erfahrungen mit Göttersprechern denken und an eine Studie über Magie und Parapsychologie aus den Zeiten vor »Christopher-Floyd«, die er vor Jahren in den Datenbanken der Community Salisbury gefunden hatte.
Rulfan
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