191 - Das Duell
stürzte auf das Dach zu…
***
»Nimm die Lampe näher zu dir, mein Sohn, sie blendet mich.« Rulfan tat, was sein Vater verlangte. Ungläubig starrte er ihn an: die große Gestalt mit der zerfurchten, pergamentenen Gesichtshaut, den roten Augen und dem kahlen Schädel – so oft er auch hinschaute, es war und blieb sein Vater, der da vor ihm stand. Er trug den bordeauxroten Overall, den er auch in der Community zu tragen pflegte. Rulfan fragte sich, wie alt sein Vater inzwischen sein mochte, und begann zu rechnen.
Hundertneun Jahre. Oder doch schon hundertzehn?
»Hätte dich fast nicht erkannt«, sagte Sir Leonard Gabriel. »Das Fell und der Schädelhelm sind perfekt. Siehst aus wie eines dieser Biester.« Sir Leonard wies ins Halbdunkle des Ganges. »Lass uns weitergehen.« Er verschränkte die Arme auf dem Rücken und schlenderte los.
Rulfan streifte den Taratzenschädel vom Kopf und folgte ihm. Eine Zeitlang liefen sie schweigend nebeneinander her. Rulfan wagte kaum, seinen Vater anzusprechen. Wusste er doch, dass es nicht sein Vater sein konnte, dass es nur eine Projektion seines eigenen Geistes war, die sich auf unerklärliche Weise selbstständig gemacht hatte und zu eigenem Leben erwacht war. Von seinem wirklichen Vater wusste er nicht einmal, ob er überhaupt noch lebte.
»Wie kommt es, dass ich dich hier treffe?«, fragte er schließlich behutsam.
»Was für eine Frage!«, sagte Sir Leonard, als läge die Antwort auf der Hand. Weiter sagte er nichts.
Drei, vier Minuten lang schlenderten sie wieder wortlos nebeneinander dahin. Der matte Schein der Öllampe glitt über Boden und Seitenwände. Eine graue, brüchige Kabelverblendung lief rechts an der Wand entlang. Einmal fiel der Lampenschein einen Atemzug lang auf ein Wandbild, und Rulfan glaubte eine rote Kröte vor schwarzem Hintergrund zu erkennen. Am Boden häuften sich Staub und Geröll zwei oder drei Finger breit. Hin und wieder fiel das Licht auf verrottete Kleidungsstücke, rostige Werkzeuge oder Plastikgefäße.
Einmal registrierte Rulfan im Vorübergehen einen Schnuller. Ihn fröstelte.
»Ich bin gekommen, um dich zu warnen«, sagte sein Vater unvermittelt.
»Vor was willst du mich warnen?« Gespannt beobachtete Rulfan seinen Vater von der Seite. Wenn er tatsächlich eine Projektion seines eigenen Geistesinhalts war, wäre er es ja eigentlich selbst, der ihm gleich die Antwort geben würde. Oder waren die Anangu beziehungsweise dieser Ahne in der Lage, ihre eigenen Botschaften in solche Phantomdialoge einzuschmuggeln?
Rulfan rechnete mit allem.
»Vor dieser Frau«, sagte Sir Leonard. »Du verrennst dich da in etwas.«
»Von welcher Frau sprichst du, Vater?«
»Stell dich nicht dumm!« Sir Leonard schlug einen barschen Tonfall an. »Du weißt genau, von wem ich spreche. Gib diese Barbarin auf, sonst wird sie dich mit in den Abgrund reißen.«
»Ich liebe sie.«
»Ach!« Sir Leonard schnitt eine grimmige Miene und winkte heftig ab. » Liebe – so ein Blödsinn! Du redest wie ein Zwanzigjähriger!« Mit allen Sinnen hing Rulfan an den Lippen seines Vaters. Der hatte einen wunden Punkt getroffen, und Rulfan spürte, das dieses Thema ihn mehr beschäftigte, als er es sich eingestehen wollte. »Liebe, das ist ein Gefühl, und Gefühle sind Hormone und Eiweißverbindungen! Hör endlich auf damit!«
»Wie soll das funktionieren?!« Rulfan brauste auf, dabei wusste er genau, dass er mit einem Phantom sprach, im Grunde sogar mit sich selbst. »Man kann nicht einfach aufhören etwas zu fühlen!«
»Ha! Sag ich’s nicht? Du redest wie ein Zwanzigjähriger! Das Gefühl ist wie ein Wakudaochse, der Wille aber ist der Herr: Er nimmt den Ochsen an die Leine, geht voran und führt ihn, wohin er will! Ändere deinen Willen, und dein Gefühl wird sich ändern!«
»Hör auf, mir die Welt zu erklären!« Rulfan ärgerte sich über seine eigene Heftigkeit. War das nicht ein deutliches Zeichen, dass sein Vater Recht hatte? Er atmete tief durch, versuchte sich zu entspannen und sagte so sachlich wie möglich: »Ich will gar nichts von Aruula. Ich weiß doch, dass sie und Maddrax zusammengehören. Es geht mit nur um ihr Wohlergehen; ich will ihr helfen, ich fühle mich verantwortlich für sie.«
»Hört, hört – es sprach der edle Beschützer!« Sein Vater lächelte sarkastisch. »Mach dir nichts vor, mein Sohn! Du willst sie!«
»Ich will ihr helfen, für sie da sein, wenn sie mich braucht!«
»Du willst diese Frau besitzen!«
»Nein!«
»Du
Weitere Kostenlose Bücher