1913
wollte, bekam er ein interessantes Ablehnungsschreiben. Der Leiter des Ausstellungshauses schrieb Schiele, man könne die Arbeit wegen ihrer Drastik auf keinen Fall zeigen, sie verletze Sitte und Anstand. Punkt. Absatz. Er selbst allerdings sei sehr daran interessiert, diese Arbeit käuflich zu erwerben. Da sind sie, die Sollbruchstellen zwischen öffentlicher und privater Moral im Jahre 1913 .
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Es wird zu hell in Berlin. Die Gaslaternen, die Leuchtreklamen, die Lichter der Stadt drohen die Sterne am Firmament zu überstrahlen. 1913 rollen die Abrissfahrzeuge an, um die »Neue Berliner Sternwarte« in der Nähe des Halleschen Tores abzureißen. Zwischen Lindenstraße und Friedrichstraße hatte Karl Friedrich Schinkel 1835 das neue preußische Observatorium fertiggestellt, das wie alles aus diesem schönsten Jahrzehnt der deutschen Geschichte sowohl praktisch wie ästhetisch kaum zu übertreffen war. Ein umwerfend schlichter Bau, über dem die Kuppel wie ein Kirchturm thront – eine weltliche Kirche, aber mit direktem Blick in den Himmel. Es wurden hier ein paar Kometen entdeckt und auch ein paar Asteroiden. Vor allem aber der Planet Neptun. Aber das interessierte 1913 niemanden mehr. Es brauchte nur ein paar Wochen, dann war wieder Acker, wo einst eines von Schinkels kühnsten Gebäuden stand. Die Sternwarte wurde nach Babelsberg verlegt, weil es dort dunkler und Neptun viel besser zu erkennen war. Und da in Preußen gut gerechnet wurde, verkaufte man das Grundstück zwischen Linden- und Friedrichstraße, um von dem Erlös die 1 , 1 Millionen Goldmark für die Errichtung der neuen Sternwarte und die 450 000 Goldmark für die Anschaffung neuer Instrumente ausgeben zu können. Das Grundstück selbst stiftete das Königshaus – im Babelsberger Schlosspark. Pünktlich zur Gründung der Filmstudios im Jahr zuvor war damit 1913 alles in Berlin, was Stars und Sternchen betrifft, in Babelsberg gelandet.
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Am 6 . Februar 1913 beginnt nach dem chinesischen Kalender das Jahr des Büffels. Dem Büffel, sagt ein altes chinesisches Sprichwort, ist das frische Gras lieber als eine goldene Futterkrippe.
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In Sindelsdorf arbeitet Franz Marc an seinem Hauptwerk, Else Lasker-Schüler ist zurück nach Berlin gereist. Oben, im ungeheizten Speicher des alten Bauernhauses in Sindelsdorf, in dem man kaum hörte, wenn unten Maria Marc Klavier spielte, hat er sich sein Atelier eingerichtet. Es ist so kalt, dass selbst Hanni, die geliebte Katze, sich an den Kamin zurückzieht. Kandinsky kommt aus München zu Besuch und erzählt: »Außen alles weiß – der Schnee bedeckt die Felder, die Berge, die Wälder – der Frost zwickt an der Nase. Oben auf dem niedren Speicher (fortwährend stieß man mit dem Kopf an den Balken) stand ›Der Turm der blauen Pferde‹ auf der Staffelei, Franz Marc stand da mit seinem Pelzmantel, großer Pelzmütze und selbstgeflochtenen Strohschuhen an den Füßen. Nun sagen Sie mir aufrichtig, wie Sie das Bild finden!« Was für eine Frage.
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Am 13 . Februar gibt es immer noch keine Spur von Leonardos »Mona Lisa« aus dem Louvre. Es erscheint ein neuer Louvre-Katalog, in dem das Bild nicht mehr aufgeführt wird. In Berlin hält am 13 . Februar Rudolf Steiner einen seiner großen Vorträge – »Lionardos geistige Größe am Wendepunkt zur neueren Zeit«. Steiner spricht lange, zwei Stunden fast. Die Zuhörer hängen an seinen Lippen. Auch er spricht, wie Oswald Spengler, viel vom Untergang. Aber er hält ihn für notwendig, damit er Platz machen kann für das Neue: »Denn in den ersterbenden Kräften ahnen, ja schauen wir zuletzt die sich für die Zukunft vorbereitenden Kräfte, und in der Abendröte geht uns auf die Ahnung und die Hoffnung der Morgenröte. Immerdar muss unsere Seele gegenüber der Menschheitsentwickelung so empfinden, dass wir uns sagen, alles Werden, es verläuft so, dass wir sehen: Da, wo das Geschaffene zur Ruine wird, da wissen wir, dass stets aus den Ruinen neues Leben blühen werde.«
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Am 17 . Februar eröffnet im ehemaligen Waffenarsenal »Armory« in New York eine der wichtigsten Ausstellungen des Jahrhunderts. Welches Jahrhunderts? Vielleicht kann man sagen, dass erst mit der ersten Armory-Show die Kunst des 19 . Jahrhunderts an ihr Ende gekommen ist. Und dass damit die Moderne nicht nur in Europa, sondern global die Vorherrschaft übernahm.
Drei Amerikaner mit großer Neugier und Sachverstand, die Maler Walter Pach, Arthur Davies und Walt Kuhn, waren Ende 1912
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