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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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gekommen – was am deutlichsten daran zu sehen ist, dass man in München bereits mit der Selbstglorifizierung anfängt (wofür in Berlin kein Mensch Zeit hat) und zum Beispiel die wunderbar versponnene Franziska von Reventlow sich von Ascona aus in »Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwüdigen Stadtteil« rückblickend über die Zeit beugt, als die Boheme in Schwabing wohnte. Und natürlich auch daran, dass die Boheme komplett verbürgerlicht, Thomas Mann, der Kinder wegen, ein Haus in den Vororten sucht, mit Ruhe und großem Garten und dann am 25 . Februar 1913 das Grundstück in der Poschingerstraße 1 kauft und mit einer prächtigen Villa bebauen lässt. Und sein Bruder Heinrich hat sich München ausgesucht – weil man von dort so gut über Berlin schreiben kann, die sich selbst nach vorne katapultierende Stadt, in der er seinen »Untertan« ansiedelt, seinen großen Roman, den er in diesen Monaten abschließt. Wenn man den Münchner »Simplicissimus« liest, dann steckt er bereits voller Spott darüber, dass die Polizisten in München nach 20 Uhr Sorge haben, vor Langeweile einzuschlafen, die große Zeitschrift der Jahrhundertwende kann sich an der eigenen Stadt nicht mehr reiben, wirkt aufs Angenehmste ermüdet, wie ausgestreckt auf einer Chaiselongue, die Zigarette in der linken Hand. Es ist die »Fackel« in Wien, der »Sturm«, die »Tat« und die »Aktion« in Berlin, die schon alle in ihren atemlosen Namen verraten, dass dort die Kämpfe der Gegenwart ausgetragen werden.
    Und natürlich kann man das stille, sanfte Ende Münchens als Haupstadt des Jugendstils und des Fin de Siècle auch daran ablesen, dass die Pension in der Theresienstraße, in der Else Lasker-Schüler in diesem Februar 1913 wohnt, »Pension Modern« heißt (»La Maison Moderne«, das legendäre Einrichtungsgeschäft des deutschen Kunstpropagandisten und Schriftstellers Julius Meier-Graefe in Paris, war hingegen schon 1904 geschlossen worden). Wenn also die Pensionen die Moderne stolz im Namen tragen, dann ist diese längst weitergezogen – und zwar ins Café »Größenwahn« nach Berlin, ins Café »Central« in der Herrengasse 14 in Wien. Namen können so sprechend sein.
    Auf nach Wien also, der Zentrale der Moderne anno 1913 . Ihre Hauptdarsteller heißen: Sigmund Freud, Arthur Schnitzler, Egon Schiele, Gustav Klimt, Adolf Loos, Karl Kraus, Otto Wagner, Hugo von Hofmannsthal, Ludwig Wittgenstein, Georg Trakl, Arnold Schönberg, Oskar Kokoschka, um nur ein paar Namen zu nennen. Hier tobten die Kämpfe um das Unbewusste, die Träume, die neue Musik, das neue Sehen, das neue Bauen, die neue Logik, die neue Moral.
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    Am 25 . Februar wird Gert Fröbe geboren.
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    »Angst vor Weibern – sobald sie sich ausziehen«. Es gibt zwei Orte im Europa des Jahres 1913 , da ist diese Angst Oswald Spenglers nicht verbreitet. Das eine ist der Monte Verità in Ascona am Lago Maggiore, wo ein wunderbar verrücktes Völkchen aus Freidenkern, Freigeistern und Freikörperkultlern seine Übungen macht, die irgendwo zwischen Eurythmie, Yoga und Krankengymnastik angesiedelt sind. Das andere sind die Ateliers von Gustav Klimt und Egon Schiele in Wien. Die Zeichnungen der beiden, deren Linien so lustvoll an der Grenze zwischen Pornographie und Neuer Sachlichkeit entlanglaufen, waren die Fieberkurve der »erotischsten Stadt der Welt«, wie Lou Andreas-Salomé damals Wien empfand. Waren die Frauen in Klimts Gemälden immer in eine goldene Ornamentik gehüllt, so umrundete er die Körper in seinen Zeichnungen mit einem unnachahmlichen Strich, der immer leicht gewellt über das Blatt läuft wie Locken, die auf die Schultern fallen. Egon Schiele ging noch viel weiter in seiner Körpererkundung – es sind gequälte, nervlich überspannte, gemarterte Körper, die er zu fassen versucht, verdreht, weniger erotisch als sexuell. Wo bei Klimt weiche Haut ist, da sind bei Schiele Nerven und Sehnen, wo es bei Klimt fließt, da spreizt und verschränkt und verdreht sich bei Schiele der Leib. Wo bei Klimt die Frau lockt, da schockt sie bei Schiele (und natürlich ist Schiele der größere Künstler).
    »Ich interessiere mich nicht für die eigene Person«, sagt Klimt, »eher für andere Menschen, vor allem weibliche.«
    Wurden die Blätter, die jeden Betrachter dazu zwingen, Voyeur zu sein, einmal bekannt, fielen sie schnell unter Zensur und mehrten zugleich den Ruhm ihrer Schöpfer. Als Schiele sein Blatt »Freundschaft« in München ausstellen

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