1913
nach Europa gereist, um die interessantesten Künstler kennenzulernen und ihre Hauptwerke nach New York zu holen. Im Gremium saßen mit Claude Monet, Odilon Redon und Alfred Stieglitz große Maler und Fotografen – die Öffentlichkeit in Amerika begriff rasch, dass es darum ging, die Kubisten und Futuristen und Impressionisten Alt-Europas gegen die behäbige amerikanische Fin de Siècle-Malerei ins Feld zu führen. Es war ein Kampf. Und erstmals wurde er auch auf amerikanischem Boden ausgetragen, nachdem in Europa die Schlachten geschlagen waren. Es gab 1300 Bilder insgesamt zu sehen, nur ein Drittel der Bilder kam aus Europa. Aber es war genau dieses Drittel, das die amerikanischen Bilder uralt aussehen ließ – vor allem die acht Bilder von Picasso und die zwölf von Matisse. Für aufgebrachte Diskussionen sorgten vor allem die Skulpturen von Brancusi und die Gemälde von Francis Picabia und Marcel Duchamp. In »Camera Work«, der legendären Zeitschrift von Stieglitz, war zu lesen: »Die Ausstellung mit neuer Kunst aus Europa fiel auf uns herab wie eine Bombe.« Und die Wucht der Detonation war genauso heftig – Wut, Unverständnis, Gelächter waren die Reaktionen, aber die Menschenmassen pilgerten in die Ausstellung, um sich selbst ein Bild zu machen. Die Zeitungen zeigten fast täglich Karikaturen, und auf ihrer zweiten Station in Chicago kam es zu einer Protestdemonstration von Studenten des Chicago Art Institute – sie verbrannten angeblich drei Kopien von Matisse-Gemälden. Matisse galt als der größte Primitivling beim amerikanischen Publikum. Das ist wie stets langfristig der größte Qualitätsbeweis.
Am meisten Aufsehen erzeugten aber die drei Brüder Raymond Duchamp-Villon, Jacques Villon und Marcel Duchamp. Siebzehn Arbeiten von ihnen wurden ausgestellt, alle, bis auf eine, verkauft. Und Marcel Duchamps »Akt, eine Treppe herabsteigend« wurde zum Signet der »Armory-Show«, zum meistdiskutierten und meistkarikierten Kunstwerk. »Explosion in einer Schindelfabrik« nannte es ein Kritiker, das sollte nach Spott klingen, demonstrierte aber, wie stark die Druckwellen waren, die von diesem Werk ausgingen. Eine Frau, die Raum und Zeit durchschreitet – eine geniale Kombination aus den großen Zeitphänomenen des Kubismus, Futurismus und der Relativitätstheorie. Der Saal mit dem Bild wurde jeden Tag gestürmt, die Leute standen Schlange, warteten vierzig Minuten, um nur einen Blick auf das Skandalbild werfen zu können. Offenbar war für die traditionsbewussten Amerikaner dieses Gemälde der Inbegriff des seltsamen, irrationalen Europa. Ein Antiquitätenhändler aus San Francisco kaufte es – irgendwo auf der unendlichen Rückreise mit dem Zug von New York, an einem Provinzbahnhof in New Mexiko, stieg er aus und telegraphierte nach New York: »Kaufe Duchamp nackte Frau Treppe herunterkommend bitte reservieren.«
Die Duchamps arbeiteten weiter in ihrem Atelier in Neuilly vor sich hin, ohne etwas von ihrem amerikanischen Ruhm zu erfahren – doch plötzlich kamen die Schecks mit der Post. Marcel Duchamp erhielt für seine vier Gemäldeverkäufe 972 Dollar – das war 1913 kein hoher Preis. Cézannes »La Colline des Pauvres« etwa wurde aus der Ausstellung für 6700 Dollar an das Metropolitan Museum verkauft. Aber er freute sich doch sehr.
In dem Moment aber, als ihn Amerika und auch Paris als Maler entdeckten, hatte Marcel Duchamp selbst mit dem Kubismus und dem Thema Bewegung abgeschlossen – oder, wie er es so schön sagte, »mit Bewegung vermischt mit Ölfarbe.« In dem Moment, als er zu einem der großen Maler seiner Zeit werden sollte, erklärte Duchamp, dass ihn das Malen langweile. Er suchte etwas Anderes, Neues.
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In Prag leidet Kafka. Darunter, dass seine aus der Ferne brieflich angeschmachtete Felice nichts sagt zu dem Band »Betrachtungen«, den er ihr im Dezember geschickt hatte. Darunter, dass seine Schwester Valli heiratet, darunter, dass es in der Wohnung immer so laut ist (weil die Türen klappern und seine Eltern und seine Schwestern zu reden wagen), darunter, dass er tagsüber in der Versicherung arbeitet und nachts an seinem Werk. Es drohen Dienstreisen, Unterbrechungen, Erkältungen. Vor allem aber leidet er unter der Angst, dass seine kreative Kraft versiegt ist. Und so schrecklich die Vorstellung war, als Junggeselle zu leben – vielleicht war das die einzige Möglichkeit, Schriftsteller sein zu können. Denn mit panischer Angst überkommt ihn diese eine Frage: »Was
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