1913
Selbstmordwunschtraum deuten.)
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Alfred Flechtheim, der große Galerist, beginnt mit den Planungen für seinen Selbstmord. Er ist zu diesem Zeitpunkt noch ein kleiner Getreidehändler mit fatalem Hang zur Kunst. Aber er hatte einen großen Plan gehabt: Fast die gesamte Mitgift seiner Frau Betti Goldschmidt investierte er auf der Hochzeitsreise nach Paris in zeitgenössische Kunst. Picasso, Braque, Friesz. Er schrieb in sein Tagebuch: »Es ist etwas Wahnsinniges mit der Kunst. Mich hat sie gepackt, die Kunst«. Und so plant er, mit Spekulationen auf Getreidepreise und auf Kupferminen in Spanien reich zu werden und dann ein Leben als Kunsthändler führen zu können. Aber er kennt sich im Getreidehandel überhaupt nicht aus. Und das scheint leider in der Familie gelegen zu haben. Schon sein Vater und sein Onkel hatten das Familienunternehmen, die Flechtheimmühle, durch riskante Manöver an den Rand des Ruins getrieben. Auch alle Grabungen nach Kupfer in Spanien verlaufen im Sande, und sein gesamtes Geld ist verbraucht. Er besitzt fünf Cézannes, einen van Gogh, zwei Gauguins, zehn Picassos, Bilder von Munch und Seurat – und 30 000 Mark Schulden. Er besucht seinen Schwiegervater Goldschmidt, »lieber beau-père«, so fängt er zu sprechen an, und fragt ihn, ob er diese Sammlung als »Sicherheit« akzeptieren würde. Aber die Antwort von Goldschmidt, dem größten Immobilienbesitzer von Dortmund, lautet »Nein«. Wer sage einem denn, dass Picasso und Cézanne und Gauguin in hundert Jahren noch etwas wert sein würden, so Goldschmidt. Sprachlos erhebt sich Flechtheim und geht. Geht und heult sich aus bei dem jungen Nils de Dardel, einem blendend aussehenden, aber sehr schlecht malenden schwedischen Künstler. Flechtheim verliebt sich in ihn. Woraufhin ihm Betti droht, ihn zu verlassen. Der drohende Verlust der Ehre durch Scheidung, sein Bekenntnis zur Homosexualität und die hohen Schulden lassen Flechtheim, da er niemanden zum Duell auffordern kann, zur Entscheidung kommen, dass ein Selbstmord der einzige Ausweg sei, seine Ehre zu retten: »Ich bin mitten drin im Sumpf.« Er schreibt an seine Frau Betti einen Brief: »Ich hoffe, Du wirst einen Mann finden, der Deiner würdiger ist.« Doch er schickt ihn nicht ab und schließt lieber eine sehr hohe Lebensversicherung ab – zugunsten seiner Eltern und seiner Frau – und plant den »tödlichen Unfall« für das Jahr 1914 . Das Jahr 1913 will er den Vorbereitungen widmen. In seinem Tagebuch kreisen seine gesamten Gedanken um den drohenden Konkurs. »Kommt ein Concurs, dann fliehe ich nach Paris, nehme an Bildern mit, was ich mitnehmen kann und lebe in Paris 8 Monate noch.« Aber dann kommt alles ganz anders: Plötzlich kann er seinen van Gogh für 40 000 Mark an das Museum in Düsseldorf abgeben, seine Freunde kaufen ihn aus seinen absurden Minengeschäften heraus, der Konkurs der Getreidefirma kann gerade noch abgewendet werden. Und so kann Alfred Flechtheim schon im Herbst 1913 mit Hilfe von Paul Cassirer eine Galerie in der Düsseldorfer Alleestraße 7 eröffnen. Seine Frau verzeiht ihm. Und er sich auch. Und so werden die fein ausgearbeiteten Selbstmordpläne ad acta gelegt. Sogar die Beträge für die Lebensversicherung kann er problemlos zahlen. Er wurde einer der größten Galeristen der Moderne – obwohl er 1913 sogar die hässlichen Bilder seines verflossenen Liebhabers Nils de Dardel neben Cézanne und Picasso zeigte. Und er gründete mit »Der Querschnitt« später die vielleicht freieste Zeitschrift, die Deutschland je kannte. Weil sie den Querschnitt wagte durch die Zeit. Und genau dadurch so zeitlos wurde wie die Kunst, die Flechtheim liebte.
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Um Punkt halb acht am Abend des 24 . April drückt der amerikanische Präsident Woodrow Wilson einen Knopf auf seinem Schreibtisch im Weißen Haus und sendet so ein telegraphisches Signal nach New York. Damit werden im gerade fertig errichteten Woolworth Building, dem höchsten Gebäude der Welt, auf einen Schlag 80 000 Glühbirnen angezündet. Tausende von Besuchern warteten in der New Yorker Dunkelheit auf diesen Moment der Erleuchtung. Der größte Leuchtturm der Welt ist bis weit ins Land hinein zu sehen und von den großen Schiffen bis zu hundert Meilen Entfernung. Amerika strahlt.
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Am 20 . April wird Adolf Hitler vierundzwanzig Jahre alt. Er sitzt im Männerwohnheim in der Wiener Meldemannstraße 27 im Arbeiterbezirk Brigittenau und malt im Aufenthaltsraum Aquarelle. In seinem Zimmer ist es
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