1913
zu eng. 500 Personen haben winzige Einzelkabinen, ein Bett, einen Kleiderständer, einen Spiegel, vor dem Hitler allmorgendlich seinen Schnurrbart pflegt. Die Nacht kostet 50 Heller. Wer, wie Hitler, dauerhaft bleibt, bekommt jeden Samstag neue Wäsche. Tagsüber treiben sich die meisten Bewohner in der Stadt herum, auf der Suche nach Arbeit oder Ablenkung, abends strömen sie zurück. Nur wenige bleiben tagsüber im Heim, Adolf Hitler ist einer von ihnen. Tag für Tag hockt er in einer Fensternische des sogenannten Schreibzimmers, in dem die aktuellen Zeitungen ausliegen, und zeichnet und aquarelliert Wiener Sehenswürdigkeiten. Schmächtig sitzt er da in seinem uralten, abgetragenen Anzug, jeder im Heim kennt die Geschichte seiner schmählichen Abweisung von der Kunstakademie. Immer wieder fällt ihm eine schwere schwarze Strähne ins Gesicht, die er mit einer hektischen Kopfbewegung nach hinten wirft. Vormittags legt er mit dem Bleistift die Zeichnung an, nachmittags kommen die Farben dazu. Abends gibt er das Blatt einem anderen Heimbewohner, der es in der Stadt verkaufen soll. Die meisten Blätter wird er über die Kunsthändlerin Kühler in der Hofzeile im ersten Bezirk oder über den Trödelhändler Schlieffer in der Schönbrunnerstraße 86 los. Meist malt er die Karlskirche, manchmal Motive vom Naschmarkt. Wenn ein Motiv gut ankommt, malt er es ein Dutzend Mal, 3 bis 5 Kronen bekommt er pro Blatt. Doch Hitler legt das Geld an, versäuft es nicht, wie seine Mitbewohner, er lebt sparsam, asketisch fast. Neben dem Schreibzimmer befindet sich eine Filiale der Niederösterreichischen Molkerei, dort holt sich Hitler gute Flaschenmilch und Iglauer Landbrot. Wenn er sich ausruhen will, dann geht er in den Schlosspark von Schönbrunn oder spielt Schach. Meist sitzt er den ganzen Tag ruhig mit seinen Farben da. Doch wenn im Raum eine politische Diskussion aufkommt, dann durchzuckt es ihn. Irgendwann wirft er seinen Pinsel fort, seine Augen blitzen, und er hält flammende Reden über den liederlichen Zustand der Welt im Allgemeinen und Wiens im Besonderen. Es könne, so schreit er, nicht angehen, dass in Wien mehr Tschechen als in Prag lebten, mehr Juden als in Jerusalem und mehr Kroaten als in Zagreb. Er wirft seine schwarze Strähne nach hinten. Schwitzt. Und bricht urplötzlich seine Reden ab. Setzt sich hin und malt weiter an seinen Aquarellen.
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In der Aprilausgabe der Zeitschrift »National Geographic« sieht die Menschheit erstmals eines ihrer Weltwunder. Machu Picchu, die Zauberstadt der Inkas, wurde wiederentdeckt bei einer gemeinsamen Expedition der Yale University und der National Geographic Society. Der Leiter der Expedition, Hiram Bingham, machte die ersten Fotografien von den Ruinen jener magischen Stadt, die plötzlich zwischen hoher Vegetation in höchster Höhe in Peru auftauchte. »National Geographic« widmet seine gesamte Ausgabe der Ausgrabung: 250 Fotos veröffentlicht das Magazin, verstört, begeistert, aufgeregt, wie es im Vorwort zum Artikel heißt, von diesem »Wunder«. Um dann auszurufen: »Was müssen das für außergewöhnliche Menschen gewesen sein, die eine solche Stadt auf dem Berggipfel errichten, nur mit ihren Händen und nur aus Stein.« Im 15 . Jahrhundert, als Florenz in seiner größten Blüte stand und Leonardo die »Mona Lisa« malte, entstand auf 2360 Metern Höhe Machu Picchu in den Anden. Bis heute funktioniert die Regenablaufstruktur in der terrassenförmig angelegten Stadt perfekt.
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In der Aprilausgabe der Berliner Zeitschrift »Die Aktion« wird zum »Vatermord« aufgerufen, ohne dass der Verfasser Otto Gross wissen konnte, dass zeitgleich in Wien Sigmund Freud an seiner Theorie dazu saß. Gross schreibt einen Aufsatz mit Ratschlägen »Zur Überwindung der kulturellen Krise«. Und der wichtigste ist: »Der Revolutionär von heute, der mit Hilfe der Psychologie des Unbewussten die Beziehungen der Geschlechter in einer freien und glückverheißenden Zukunft sieht, kämpft gegen die Vergewaltigung in ursprünglichster Form, gegen den Vater und gegen das Vaterrecht.« (Am Ende des Jahres wird Gross, kein Witz, von seinem Vater in die Psychiatrie eingewiesen.) Es ist derselbe Zeitpunkt, zu dem Asta Nielsen im Kino mit dem Film »Die Sünden der Väter« zu sehen ist. Und Franz Kafka an seinen neuen Verleger Kurt Wolff in Leipzig schreibt, dass er sich als Titel für seinen ersten Erzählungsband »Söhne« ausgedacht habe. Gottfried Benns zweiter Gedichtband, der in
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