1913
diesem Jahr nicht bei Kurt Wolff erscheint, weil dieser Benns Gedichte nicht mag, sondern in Wilmersdorf bei dem Kleinverleger Meyer, heißt tatsächlich »Söhne«. Kein Wunder also, dass am 3 . April auf der Hamburger Werft Blohm & Voss das mit 54 282 Bruttoregistertonnen und 276 Metern Länge größte Passagierschiff der Welt beim Stapellauf auf den Namen »Vaterland« getauft wird.
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An ebenjenem 3 . April meldet sich Franz Kafka unrettbar krank – er schreibt an seinen Freund Max Brod: »Vorstellungen wie z.B. die, dass ich ausgestreckt auf dem Boden liege, wie ein Braten zerschnitten bin und ein solches Fleischstück langsam mit der Hand einem Hund in der Ecke zuschiebe – solche Vorstellungen sind die tägliche Nahrung meines Kopfes.« Und im Tagebuch: »Immerfort die Vorstellung eines breiten Selchermessers, das eiligst und mit mechanischer Regelmäßigkeit von der Seite her in mich hineinfährt und ganz dünne Querschnitte losschneidet, die bei der schnellen Arbeit fast eingerollt davonfliegen.« So geht es nicht weiter. Die Freunde sind alarmiert, Kafka selbst hat ernsthaft Angst durchzudrehen. Er schläft kaum noch, hat Kopfschmerzen und große Verdauungsprobleme. Schreiben kann er überhaupt nicht mehr – höchstens seine Briefe an Felice nach Berlin. Aber das ist auch schwieriger geworden, seit die Idealgestalt aus den Briefen zu einer Frau aus Fleisch und Blut geworden ist, neben der er vor Verzagen zitterte, als er sie in Berlin treffen durfte. Er ist völlig am Ende. Auch hier: Burn-Out bzw. »Neurasthenie«. Aber anders als Musil geht Kafka nicht zum Arzt. Er greift zur Selbsttherapie. Und spricht am 3 . April vor in der Gärtnerei Dvorský im Arbeitervorort Nusle und bietet seine Hilfe beim Jäten an. Selten hat er eine lebensklügere Entscheidung getroffen als diese: sich zu erden, als ihm der Boden unter den Füßen wankt.
Er darf sich entscheiden zwischen Blumen und Gemüse. Und Kafka wählt natürlich das Gemüsebeet. Am 7 . April beginnt er, am späten Nachmittag, als er die Arbeit in der Versicherung hinter sich hat. Es regnet leicht. Kafka trägt Gummistiefel.
Wir wissen nicht, wie oft er zur Gärtnerei gegangen ist. Wir wissen nur, warum er Ende April fluchtartig das Weite sucht. Die Tochter des Gärtners zieht ihn ins Vertrauen: »Ich, der ich durch die Arbeit meine Neurasthenie heilen will, muss hören, dass der Bruder des Fräuleins, er hat Jan geheißen und war der eigentliche Gärtner und voraussichtliche Nachfolger des alten Dvorsky, ja sogar schon Besitzer des Blumengartens, sich vor 2 Monaten im Alter von 28 Jahren aus Melancholie vergiftet hat.« Selbst dort also, wo er sich Erholung sucht von seinem inneren Leiden, droht die tödliche Melancholie. Verstört verlässt Kafka die Gärtnerei auf der Nusler Lehne. Kein stiller Ort, nirgends.
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Auch Lyonel Feininger zieht es am 3 . April hinaus aufs Land. Die elterlichen Gene, die Natur und das Schicksal hatten ihm allerdings eine glücklichere mentale Disposition geschenkt. Von Weimar aus, wo seine Frau Julia studiert, steigt er auf das Fahrrad und fährt den Hügel hinauf durchs vorfrühlingshafte Thüringer Land. »Nachmittags krabbele ich los mit’m Regenschirm und einem Block, nach Gelmeroda; ich habe dort eineinhalb Stunden herumgezeichnet, immer an der Kirche, die wundervoll ist.« Mehr wissen wir von ihm nicht. Seine Sprache waren seine Bilder. Und doch ist diese Entdeckung vom 3 . April 1913 von zentraler Bedeutung für sein Lebenswerk. Er wird Hunderte Zeichnungen von der kleinen, unscheinbaren Dorfkirche in Gelmeroda machen und über die Jahrzehnte zwanzig Gemälde. Selbst als er Deutschland und das Bauhaus längst verlassen hatte, erschuf er aus der Erinnerung immer neue Visionen von Gelmeroda. Schon nach seinen ersten Skizzen vor dem Kirchturm schreibt er an seine Frau Julia: »Wenn ich in den letzten Tagen draußen arbeitete, geriet ich förmlich in Ekstase. Das geht weit über die Beobachtung und Feststellung, das ist der magnetische Zusammenschluss, ein Freiwerden von allen Fesseln.« Bald entsteht aus den etwa vierzig Studien ein erstes Gemälde, »Gelmeroda I« genannt, als wüsste er schon im ersten Moment, dass noch viele weitere Versionen folgen werden, zwei weitere allein 1913 . Ein sehr expressives Bild, eine wilde Mischung aus den Linien eines Franz Marc und der Futuristen. Oder, wie Feininger selbst es sah: »Seit 10 Tagen grinst mich ein aufgezeichnetes Bild, Kohle auf Leinwand an, zu
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