Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
Vom Netzwerk:
dem ich immer sehnsuchtsverzehrtere Blicke hinübersende – die Gelmerodaer Kirche.« Die kleine Kirche wird zum entscheidenden künstlerischen Wendepunkt im Œuvre Lyonel Feiningers. Und zu einer, vielleicht sogar: der Kathedrale des Expressionismus (was niemanden daran hinderte, sie hundert Jahre danach zu einer »Autobahnkirche« zu machen).
    ◈
    Am 30 . April wird Frank Wedekinds Theaterstück »Lulu« von der Zensur verboten. Thomas Mann, der gerade zu einem Mitglied des Münchner Zensurbeirates gewählt worden ist, schreibt ein positives Gutachten. Doch er wird überstimmt. 15 von 23 Beiratsmitgliedern votieren für ein Verbot des Stückes aus sittlichen Gründen. Aus Protest tritt Thomas Mann aus dem Zensurbeirat aus.
    ◈
    Anfang April, als Franz Kafka seinen Dienst beim Gemüsebauern antritt, klingelt Stefan George bei Ernst Bertram, dem Freund Thomas Manns. George war zu diesem Zeitpunkt bereits eine mythische Figur in München und dem Rest des Reichs. Ein wundersamer Dichter, Schöpfer von Versen von bestürzender Schönheit und zugleich unheimliches Zentrum eines Kreises halbwüchsiger Jünger. Früh schuf er ein auratisches Image seiner selbst, die Haare gepudert, den Diamantring am Finger und den Kopf immer im Profil – so erschienen die autorisierten Fotos. Von vorne fand er sich zu bäurisch. Seit Anfang des Jahrhunderts kam George immer wieder besuchsweise nach München und wohnte im Gästezimmer von Karl und Hanna Wolfskehl. Erst in der Leopoldstraße 51 , dann in der Leopoldstraße 87 , schließlich, so auch 1913 , in der Römerstraße 16 , wo sich George zwei Zimmer nach eigenen Wünschen einrichten durfte. Die Wolfskehls schirmten George ab von unliebsamen Verehrern und kanalisierten den Zugang. Die Auftritte ihres geheimnisvollen Untermieters wussten die Wolfskehls gekonnt in Szene zu setzen. An diesem 3 . April jedoch wollte George seinen jugendlichen Verehrer Ernst Bertram treffen. Doch Bertram war in Rom. Statt seiner öffnete Ernst Glöckner, 1885 geboren, die Tür. Glöckner schreibt verwirrt und erschüttert an seinen Freund Bertram nach Rom: »Und nun habe ich den Wunsch, ich hätte nie diesen Menschen kennengelernt. Was ich an diesem Abend tat, entzog sich meiner Selbstkontrolle, ich handelte wie im Schlaf, unter seinem Willen stehend, ich war Spielzeug in seinen Händen, ich liebte und hasste zugleich.« Selten ist die unmittelbare, diabolische Verführungskraft des Dichters und selbsternannten Propheten Stefan George ehrlicher geschildert worden als in dieser Selbstanklage des 18 -jährigen Glöckner. Fortan lebten Glöckner, der glühende George-Verehrer Bertram und der 45 -jährige George in einem homoerotischen Dreiecksverhältnis. In diesen Tagen arbeitet George an seinem Verswerk »Der Stern des Bundes«. Es wird der Versuch sein, die Päderastie und das Hineinführen der jungen Männer in das »Geheimnis« zu einem sakrosankten Kult zu verklären. »Der Stern des Bundes« wird zur Verfassung des George-Kreises.
    ◈
    Der Futurismus tingelt durch die russische Provinz: Majakowski macht gemeinsam mit den futuristischen Künstlern David Burljuk und Wassily Kamenski eine Tournee mit Lesungen. Eindruck macht auf dem Lande vor allem der Kleidungsstil der Futuristen. Futurismus gut und schön, so scheint 1913 die Devise gewesen zu sein, aber bitte wenigstens vernünftig angezogen. Als Majakowski in Simferopol in einer gelb-schwarz gestreiften Bluse auf die Bühne steigt, schreien die aufgebrachten Besucher nur noch »hinunter«, »hinunter«. So lässt Majakowski an diesem Abend seinen rosafarbenen Smoking aus, den er zuvor in Charkow getragen hat. Aber seine Verse mit der Reitpeitsche zu deklamieren, das lässt er sich auch in Simferopol nicht nehmen. Die Lokalzeitungen sind entsetzt. Aber das ist bewusstes Kalkül der Futuristen. Sie hätten ohne Gegenwehr der Presse das Gefühl gehabt, nicht richtig zu liegen. Als Kasimir Malewitsch einen demonstrativen Spaziergang auf der Kuzneckij Most, einem beliebten Treffpunkt in Moskaus Zentrum, unternahm, hatte er zuvor alle Lokalzeitungen der Stadt alarmiert, so dass über seinen provozierenden Spaziergang empört berichtet wurde. Die Provokation bestand darin, dass er einen Holzlöffel im Knopfloch seines Anzuges trug. Eigentlich wollten die Futuristen damit gegen die ihrer Meinung nach lächerliche Mode der morbiden Ästheten demonstrieren, die im Andenken an Oscar Wilde immer noch Chrysanthemen im Knopfloch trugen, aber damit auf dem

Weitere Kostenlose Bücher