1913
braucht er auch da keinen Wecker. Um 5 Uhr gibt es Tee, danach widmet er sich dem, was er »Nebenaufgaben« nannte, man kann ihn anrufen und auch besuchen (»kommen Sie gegen halbsechs«, schreibt er an Bertram), er ist sozusagen: da. Um 19 Uhr gibt es Abendessen. Weltliteratur ist also nur eine Frage der genauen Planung. In diesem Frühjahr erzählte er seinen Kindern das erste Mal von seinem neuen Buch, das er schreiben will, »Der Zauberberg« soll es heißen. Und es soll lustig werden. Darauf erfindet Erika für ihren Vater den Namen: »Zauberer«. Dabei bleibt es, sein Leben lang. Briefe an seine Kinder unterschrieb er nur noch so und manchmal, ganz vertraulich, nur mit »Z«.
So hatte er scheinbar alles im Griff mit seinem Zauberstab, der sein Füller war. Von A wie Aschenbach bis Z wie Zauberer.
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Bibliothekar, die Treppe herabsteigend: Im April 1913 nimmt Marcel Duchamp nach einem erfolgreich absolvierten Kursus in Bibliothekswissenschaften seine Arbeit als Bibliotheksassistent an der Bibliothek Sainte-Geneviève in Paris auf. Trotz seines großen Erfolges auf der New Yorker Armory-Show ist er eigentlich mit der Kunst fertig. Er beginnt zu schweigen, aber das Schweigen von Marcel Duchamp wird noch nicht überbewertet. Es bekommt überhaupt niemand mit. Er spielt permanent Schach. Ist vielleicht nicht nur seine Kunst, sondern die Kunst insgesamt am Ende? Duchamp, der hochintelligente, hochsensible Notarssohn, der sich zu seiner eigenen Überraschung in Apollinaires Buch »Die Maler des Kubismus« im März als großer Kubist gefeiert fand, sieht sich in einer Sackgasse. Im Jahr zuvor war er in München gewesen, fernab von Paris, er hatte geschwiegen, gelesen und nachgedacht. Und er hatte die Cranachs in der Alten Pinakothek gesehen. Er hat die nackten Marien in ihrer Eckigkeit mit den Frauenbildern des Futurismus zu seinem Bild »Akt, eine Treppe herabsteigend« verbunden. Er hatte mit dem trägen Medium der Ölfarben ein Bild für Bewegung gefunden. Doch jetzt steht er mit seiner Kunst und seinen Gedanken im Stau. Ob er nicht lieber nur noch Schach spielen sollte? Später wird er Mitglied der französischen Schachnationalmannschaft und nimmt an vier Olympiaden teil.
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Die Rüstungsausgaben in Österreich-Ungarn betrugen 1913 zwei Prozent des Bruttosozialproduktes, im Deutschen Reich 3 , 9 Prozent und in Frankreich 4 , 8 Prozent.
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In Berlin sitzt George Grosz und zeichnet das, was nicht zu begreifen ist. Die Explosion der Armut und die des Reichtums. Den Lärm. Den Verkehr. Die Baustellen. Die Kälte auf den Straßen und die Hitze der Bordelle. Die Untertanen. Die feisten Männer mit Hut, die dicken Frauen, deren Fleisch nichts mehr hält. Prügelnde Körper, frierende Körper, gaffende Körper. Ein zackiger, dünner, schwarzer Strich fängt alles ein. Er zeichnet so kratzend, als ritze er Tätowierungen in die Haut. »Die Peripherie der wie ein Oktopus um sich greifenden Stadt zog uns gewaltig an. Wir zeichneten die noch feuchten Neubauten, die bizarren Stadtlandschaften, wo Eisenbahnen über Unterführungen dampften, Müllabladeplätze an Laubenkolonien grenzten, neben neuausgelegten Straßen schon die Asphaltkessel standen.« Grosz zeichnet und zeichnet. Und wenn der Block zu Ende ist, geht er in eine Kneipe, trinkt ein Helles und isst seinen Rollmops. Und hinterher noch einen »Koks mit’m Pfiff«. Das ist Kartoffelschnaps mit einem Stückchen Zucker, in Rum getaucht, das kostet fast nichts. Wenn er völlig abgebrannt ist, geht er, wie auch Kirchner und all die anderen tausend Bohemiens, zu Aschinger. Denn da gibt es einen riesigen Teller Erbsensuppe für 30 Pfennig – und dazu so viel und unbegrenzt Brot und Brötchen. Wenn der Brotkorb leer ist, bringt der Kellner einen neuen, und Grosz lässt das Brot in seinen Taschen verschwinden für die hungrigen Tage danach. Dann geht er raus auf die Straße, in die Cafés, in die Bordelle, in die Kneipen, und zeichnet die Krone der Schöpfung, das Schwein, den Menschen.
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Wien liegt im Schatten Sigmund Freuds. Selbst beim Träumen jetzt schon überall die Gedanken an das Über-Ich aus der Berggasse 19 . Am 9 . April jedenfalls notiert Arthur Schnitzler in seinem Tagebuch: »Alberne Träume; – von irgend einer Probe nach Haus, will mich noch bei Epply rasiren lassen; plötzlich in meinem Badezimmer: Herr Askonas will mir (wohl vor einer Furunkeloperation) das Bein rasiren …« (Die Freud-Schule könnte dies als einen verkappten
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